Skam
Die Webserie Skam wurde im Auftrag des norwegischen öffentlich-rechtlichen Senders NRK (Norsk Rikskringkasting) produziert und zeigt den Alltag von Schülern des Hartvig-Nissen-Gymnasiums in Oslo. Jede der insgesamt vier Staffeln, die von 2015 bis 2017 ausgestrahlt wurden, rückt jeweils eine andere Hauptfigur in den Mittelpunkt, aus deren Perspektive erzählt wird. In der ersten Staffel stehen das Sozialleben von Eva und die turbulente Liebesbeziehung zu ihrem Freund Jonas im Vordergrund. Gleichzeitig werden weitere wichtige Figuren eingeführt: Evas Freundinnen Noora, Vilde, Sana, Chris und ihr bester Kumpel Isak. Einige dieser Hauptfiguren spielen in den nachfolgenden Staffeln dann wiederum eine größere Rolle. Nach einem guten Start der ersten Staffel wurde die Serie spätestens mit der zweiten Staffel in ganz Norwegen bekannt: Rund eine Million Zuschauer verfolgten, wie sich die Protagonistin Noora in den geheimnisvollen älteren Mitschüler William verliebt. Mit der dritten Staffel um den homosexuellen Isak und sein Coming-Out wurde die Serie auch international zum Erfolg. In der abschließenden vierten Staffel bekommt man Einblicke in das Leben von Sana – eine selbstbewusste muslimische Kopftuchträgerin, die sich im Verlauf der gesamten Serie stets zwischen den Zwängen ihrer Religion und der liberalen norwegischen Gesellschaft befindet.
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Abbildung: Screenshot aus Skam. |
Genre
Skam wird auf der Homepage des Senders offiziell als teen TV series vorgestellt und darüber hinaus in zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln auch als teen drama bezeichnet. Tatsächlich findet man bei Skam einige Konventionen des Highschool-Genres: Die Hauptfiguren sind Teenager und gehen zusammen auf eine Highschool, die unmittelbar in der ersten Folge der Serie als Handlungsort mit typischen Teilräumen wie Schulhof oder Gang mit Schließfächern eingeführt wird. Am Anfang der Serie wird außerdem auf ein zentrales Motiv eines jeden Highschool-Films verwiesen: Eva, Vilde, Sana, Chris und Noora gründen für die Abi-Umzugsfestivitäten eine sogenannte ‚Russ‘-Bus-Gruppe. Ähnlich wie der Prom, der Abschlussball an einer amerikanischen Highschool, ist die norwegische ‚Russfeier‘ ein wichtiges Ereignis am Ende der Oberstufe, bei dem alle Abiturienten die erfolgreich abgeschlossenen Prüfungen ausgiebig feiern. Ein Abschlussball bildet gewöhnlich den die Episoden eines Highschool-Films zusammenhaltenden Rahmen. Ebenso genretypisch ist die romantische Liebesbeziehung. Natürlich geht es auch bei Skam um Gefühle, Beziehungsprobleme, erste Liebe und ersten Sex. Trotz dieser Grundstrukturen eines Highschool-Films ist bei Skam keine unmittelbare Typisierung der Figuren zu erkennen. Während in einem Highschool-Film häufig auf konventionelle Charaktermuster wie „der Sportler“, „der Nerd“ oder „die Schönheitskönigin“ zurückgegriffen wird, sind die Skam-Protagonisten relativ ‚normale‘ norwegische Jugendliche aus Oslo, die sich mit alltagsüblichen Problemen und Sorgen von Heranwachsenden auseinandersetzen müssen: mit der eigenen Identität und Sexualität, Religion, Rassismus, Leistungsdruck und stereotypen Geschlechterrollen in der Gesellschaft.
Alle Hauptfiguren sind mehrdimensional und ambivalent. Beispielsweise William, der in der ersten Staffel als Frauenheld gilt und mit dem Spitznamen „Fuckboy“ vorgestellt wird, entwickelt sich spätestens in der zweiten Staffel – in der seine Liebesbeziehung mit Noora behandelt wird – zu einem vielschichtigen und einfühlsamen Charakter, der wiederum zugleich Aggressions- und Anpassungsprobleme hat. Vilde, die zwar in keiner Staffel zur Protagonistin wird, aber eine konstant wichtige Hauptfigur darstellt, ist ebenfalls ein gutes Beispiel für einen Seriencharakter, die als oberflächlich, naiv und unerfahren eingeführt wird, die angeblich nur an ‚Sex und Jungs‘ denke, aber im Verlauf der Serie weitere grundlegende Charaktereigenschaften offenbart, die sie in neuem Licht erscheinen lassen; beispielsweise, wenn sie sich in einer der finalen Folgen der letzten Staffel um ihre manisch-depressive Mutter kümmern oder im Laufe der Serie gegen ihre Essstörung kämpfen muss. Darüber hinaus ist keine der Figuren als einseitig ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ gezeichnet: ob Eva, die in der ersten Staffel ihrer besten Freundin den Freund ‚ausgespannt‘ hat, aber wegen ihrer Schuldgefühle in ihrer Beziehung nicht glücklich werden kann und an Identitätsverlust und Selbstzweifeln leidet, oder Isak, der seine Homosexualität nicht akzeptieren kann und seine angebliche Heterosexualität ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer unter Beweis stellt, wodurch er sich von seinen Freunden umso mehr isoliert. Bei Skam fällt generell auf, dass Themen wie Sex, Drogen, Depressionen, Religion, Rassismus, übermäßiger Alkoholkonsum, das Coming-Out oder sexuelle Gewalt zwar aufgezeigt, aber nicht von außen bewertet werden. Die Protagonisten müssen sich selbst mit diesen Themen und Problemen auseinandersetzen und aus eigenen Fehlern lernen, ohne dass sich eine moralisierende Instanz (in Form von Eltern oder Lehrern) unmittelbar einmischt.
Nicht nur die Figuren, auch andere klassische Genrekonventionen des Highschool-Films werden bei Skam variiert, modifiziert oder aufgebrochen. So ist zwar die Schule als Ort des Geschehens für den Handlungsverlauf bedeutend, aber viele andere private Handlungsorte sind es ebenfalls, wie beispielsweise das Haus von Eva in der ersten Staffel, in dem die wichtigsten Momente ihrer Beziehung mit Jonas sowie unzählige ‚Russ‘-Bus-Treffen der Mädchengruppe stattfinden. Die Wohngemeinschaft von Noora wird in der zweiten und dritten Staffel zum zentralen Handlungsraum, der sowohl weitere Nebenfiguren (Mitbewohner Eskild und Linn) einführt, als auch den Rahmen für viele Wende- und Höhepunkte der Erzählung bildet, was diesen Staffeln eine Nähe zur „WG-Webserie“ verleiht, einem Subgenre, das auch viele deutsche Webserien-Produktionen prägt. Nicht zuletzt sind unterschiedliche Räumlichkeiten zu erwähnen, die beim Feiern und Ausgehen der Jugendlichen eine deutlich größere Rolle als der Schulraum einnehmen. Ähnlich verhält es sich mit dem Thema der ‚Russ‘-Feier bzw. der Finanzierung des ‚Russ‘-Busses, dessen Bedeutung in der ersten und der letzten Staffel immer wieder als Handlungsmotiv aufgegriffen wird. Im Verlauf der Serie rücken diese Motive jedoch immer mehr in den Hintergrund und werden zum bloßen rahmenden Handlungsgerüst, während andere Themen wie die Identitätsfindung von Eva oder die Sexualität Isaks in den Vordergrund gestellt werden. Auch werden die Handlungsstränge und Beziehungskonstellationen nicht im Rahmen der Abschluss-Feierlichkeiten aufgelöst.
Ästhetik
Skam arbeitet mit vielen stilistischen und ästhetischen Brüchen, um das Verhältnis von Fiktion, Inszenierung und Authentizität zu thematisieren. Der spielerische Umgang mit den Konventionen wird dabei immer wieder deutlich, teilweise bewusst übertrieben ausgestellt, wobei die Brüche vor allem im Verhältnis zur relativ konventionellen audiovisuellen Gestaltungsweise (klassische Einstellungsgrößen und Kamerabewegungen, Einsatz der unsichtbaren Kamera usw.) auffallen, die die meisten ‚normalen‘ Sequenzen der Serie prägt. Besonders markant sind dabei Sequenzen, in denen die Schnitte an als Fremdton eingespielte internationale und norwegische Popsongs angepasst sind. Wenn Eva beispielsweise den Freund einer Mitschülerin küsst und deswegen ein paar Tage später zusammen mit ihren Freundinnen von der rivalisierenden Mädchengruppe angegriffen wird, setzt gleich zu Anfang der Schlägerei das Lied „Baby’s On Fire“ der südafrikanischen Rap-Rave-Band „Die Antwoord“ ein, während der diegetische Ton immer leiser wird und bis auf ein paar vereinzelte Mädchenschreie gar nicht mehr zu hören ist. Die dabei eingesetzten Zeitlupeneffekte verstärken die Ähnlichkeit zu einem Musikvideo. Gleichzeitig wird dadurch – hier und an vielen anderen Stellen der gesamten Serie – die Selbstinszenierung von Figuren und insbesondere von Figurengruppen ausgestellt und die dramatische Handlung – in diesem Fall die Schlägerei – unterstrichen. Als dauerhaftes Stilmerkmal und darum zunehmend weniger auffallend werden SMS-, Facebook- und Messenger-Nachrichten ins Bild eingeblendet bzw. den diegetischen Raum teilweise überdeckend ‚vor‘ das Filmbild geblendet. Die digitale Kommunikation zwischen den Jugendlichen spielt eine entscheidende Rolle für die Handlung und Informationsdramaturgie der Serie. Skam zeigt ihre Protagonisten, wie sie sich in Chatrooms unterhalten, Kurznachrichten auf ihrem Handy austauschen oder tagelang auf eine bestimmte SMS warten. Manche Unterhaltungen finden nur mittels werkinterner digitaler Kommunikation statt, teilweise entsteht daraus eine doppelte Kommunikationssituation. Eine in die Handlung der zweiten Staffel einführende Sequenz zeigt, wie Noora während eines Gesprächs mit ihren Freundinnen heimlich auf ihrem Smartphone mit William flirtet, der sich ebenfalls im gleichen Raum, im Blickfeld von Noora, aber außerhalb der Hörweite der Mädchen, befindet. Während die Dialoge der Freundinnen zu hören sind, fokussiert sich die Kamera auf Noora und William und stellt in wechselnden Einstellungen dar, wie einer der beiden zunächst eine Nachricht verfasst und wie der jeweils andere dann auf die verschickte SMS reagiert. Der jeweilige Nachrichtentext wird in Form einer Textblase unmittelbar im Bild neben das Gesicht der Figur eingeblendet.![]() |
Abbildungen: Screenshots aus Skam. |
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Abbildung: Screenshot aus Skam (Präsenz bei Instagram). |
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Abbildung: Screenshot aus Skam (Präsenz bei Instagram). |
Distribution, Rezeption und Medienumgebung
Für die Verbreitung der Serie diente das Internet als wichtigste Distributionsquelle. Mehrmals pro Woche wurden auf der offiziellen Webseite des Fernsehsenders NRK3 einzelne kurze Videoclips in Echtzeit veröffentlicht und zwar zu der Tageszeit, in der die Videos spielen. Das bedeutet, dass manche Videos auch mal mitten in der Nacht gepostet wurden, wenn die Figuren sich nachts auf einer Party befinden. Häufig kam es auch vor, dass an einem Tag mehrere Clips publiziert wurden – und an anderen gar keine. Wenn die Freundinnen in der achten Episode der ersten Staffel beispielsweise am Freitag um 20:30 Uhr zu einer Party unterwegs sind, wurde die Partysequenz auch am Freitag um 20:30 Uhr auf der Homepage veröffentlicht, und wenn Eva dann ca. eine Stunde später, um 21:42 Uhr, alleine nach Hause geht, so wurde die entsprechende Sequenz ebenfalls in Echtzeit gepostet. Die meisten Videoclips haben eine Länge von einer bis fünf Minuten, mit Ausnahme von wenigen Schlüsselszenen, die auch mal ca. zehn bis 15 Minuten lang sein können. In der Regel wurden innerhalb einer Woche zwischen vier und sechs Clips ohne Vorankündigung online gestellt. Durch ein Insert am Anfang jedes Clips sowie den gleichen Text als Videounterschrift wurde dem jeweiligen Video ein Titel zugewiesen.![]() |
Abbildung: Screenshot aus Skam. |
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Abbildung: Screenshot aus Skam. |
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Abbildung: Screenshot aus Skam (Präsenz bei Instagram). |
Anmerkungen
Das Konzept von Skam profilierte sich trotz seiner lokalen Verankerung vor allem durch eine weitreichende Sichtbarkeit, die aufgrund der Entwicklungen im Rahmen von Digitalisierung und globaler Vernetzung möglich wurde und somit auch neue Rezeptions- und Wahrnehmungsgewohnheiten gefördert hat. Die Protagonisten von Skam können samt ihren Lebenswelten und Problemen zumindest in der westlichen Kultur als universelle Identifikationsfiguren für Jugendliche dienen. Einerseits vermittelt die norwegische Serie ihre Inhalte über universelle Bilder und Muster der globalen Medienkultur, zum anderen besinnt sie sich auf ihre lokalen kulturellen Traditionen zurück. Mithilfe der digitalen Kommunikation wird hier eine Verbindung von Lokalem und Globalem geschaffen, die den Zuschauern – unabhängig von Sprache und lokaler Zugehörigkeit – Anknüpfungspunkte für eigene Erlebnisse und die Aneignung des Serienkosmos bietet. International zeigten bereits sehr früh viele Länder Interesse an der Adaption von Skam: Anfang 2018 gingen beinahe zeitgleich Skam France, Skam Italia und die deutsche Adaption Druck online, ab Herbst 2018 folgten eine niederländische, eine spanische und eine belgische Neuauflage der Webserie. Die Rechte für den nordamerikanischen Ableger der Serie wurden bereits Ende 2016 durch den Musik- und Fernsehproduzenten Simon Fuller gesichert. Fuller, der unter anderem für Formate wie „Pop Idol“ zuständig war, produzierte gemeinsam mit Julie Andem eine texanische Version – Skam Austin –, die durch den Videodienst Facebook Watch veröffentlicht wurde. Alle Adaptionen haben die Haupthandlung, die Figurenkonstellation und das transmediale Format ihrer norwegischen Vorlage weitestgehend übernommen, weichen bei den Nebenhandlungen und Dialogen jedoch in unterschiedlichem Ausmaß vom Original ab. Inwieweit die Adaptionen des Originals bei den Zuschauern tatsächlich eine ähnliche Wirkung wie ihr Vorbild auslösen werden, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestimmen (Stand: 01.09.2019; einige der genannten Skam-Adaptionen werden demnächst auf diesem Blog porträtiert). Wenngleich das auf Transmedialität und soziale Netzwerke ausgelegte Konzept durchaus übernommen werden kann, so gibt es viele weitere Faktoren, die für den Erfolg von Skam sorgten: die Vermischung von unterschiedlichen Kulturen und Traditionen, aber auch die sorgfältig vorbereitete thematische Ausrichtung sowie die Einbettung von Authentifizierungsmerkmalen in ein kreatives Storytelling bei vielfältiger ästhetischer Umsetzung.Angaben
Staffeln: 4Episoden (im Fernsehen ausgestrahlt): 43
Episodenlänge: unterschiedlich, 15 – 60 Minuten
Zuerst gezeigt auf: NRK
Produktion: NRK
Jahr: 2015 – 2017
Genre: Teen-Pic, Coming of Age, Queer
Abrufbar unter:
auf der offiziellen Internetseite von NRK (https://tv.nrk.no/serie/skam) verfügbar, allerdings nur für User mit einer skandinavischen IP-Adresse(Markus Kuhn / Maria Malzew, 12.09.2019) Dieser Blogeintrag basiert zu großen Teilen auf dem wissenschaftlichen Beitrag von Markus Kuhn und Maria Malzew: Markus Kuhn/Maria Malzew (2018): „Zwischen medialer Transformation, kultureller Aneignung und lokaler Authentizität: Die norwegische Webserie Skam als Beispiel für die audiovisuelle Vielfalt der Medienkultur der Gegenwart“, in: Rückert, Frederike (Hrsg.), Bewegte Welt // Bewegte Bilder, München: kopaed, S. 53–91.