Wir sind jetzt


von Florian Krauß // 


Laura genießt ihre Jugend – mit Alkohol, Partys, ihren besten Freundinnen und der leidenschaftlichen Beziehung zu Olli, dem populären Skaterjungen. Doch dann entwickelt sie Gefühle für dessen besten Kumpel Daniel, der zugleich ihr langjähriger platonischer Freund ist. Als Olli ein Liebesgeständnis und einen Kuss zwischen beiden mitbekommt, hat dies fatale Konsequenzen. Laura ist zunehmend auf sich allein gestellt. Nur Fee, die als ‚Schlampe‘ verschriene blonde Schulschönheit, scheint noch zu ihr zu halten.


Abbildung: Screenshot aus Wir sind jetzt


Genre

Die Dreiecksbeziehung um Laura, einschließlich dem Haarfarben-Kontrast blond (Olli) vs. schwarz (Daniel), erinnert an Klassiker der Teenagerserie wie Buffy the Vampire Slayer (Buffy – Im Bann der Dämonen, USA 1997–2003, WB/UPN) (vgl. Grampp 2020). Durchaus typisch für dieses hybride Fernsehgenre sind immer wiederkehrende Handlungsorte wie Skateplatz und Schule oder Nebenfiguren wie die blonde Mitschülerin mit ‚Schlampen‘-Status und der uncoole Nerd, der kein Mädchen abkriegt (vgl. O’Neill 2016, S. 146–194). Für den primären Auftraggeber RTL II stellt Wir sind jetzt aber eine gewisse Neuerung dar, weist die Serie doch eher in Richtung Coming-of-Age-Drama als Scripted Reality. „[D]enkbar weit weg von ‚Berlin – Tag & Nacht‘ oder ‚Krass Schule‘ […], dafür umso näher an ihren Protagonisten“, resümierte Alexander Krei (2019) auf DWDL.de. Schimpfwörter in den Dialogen zeugen wohl weniger von einer Orientierung an Scripted-Reality-Soaps als vielmehr von dem Versuch, authentisch und drastisch von heutigen Jugendlichen zu erzählen. Der rege Einsatz von Popmusik erinnert ebenso an bekannte Zutaten des Teen TV, ist aber, anders als es der Serientitel suggeriert, wenig ‚im Jetzt‘. Es dominieren Songs und Acts der 2000er und 1990er Jahre, von „Stay“ des Synthie-Pop-Duos Shakespears Sister bis zu Robyns „Dancing on my own“, die wohl eher den Musikgeschmack der Produktionsbeteiligten als der porträtierten Jugendlichen widerspiegeln. Hier deutet sich ein erster zentraler Unterschied zu Druck (D 2018–, ZDF/Funk) an, der deutschen Adaption des norwegischen Serienhits Skam (NO 2015–2017, NRK), von dem auch Wir sind jetzt beeinflusst ist. In Zusammenhang mit einer umfangreichen Recherche wurde bei Druck und Skam großen Wert darauf gelegt, auch musikalisch nah an heutigen Jugendwelten zu sein.

Dramaturgie und Ästhetik

Zumindest bei der Erzählperspektive konzentriert sich Wir sind jetzt auf die adoleszenten Protagonist*innen: Außer der Lehrerin tauchen Erwachsene gar nicht erst auf. Der klare Fokus liegt auf Laura. Durch die Nebenfiguren und ihre oft nur angerissenen Probleme, wie beispielsweise die häusliche Gewalt durch den Vater, die Daniel erlebt, wäre ein Perspektivenwechsel ab der zweiten Staffel denkbar (ähnlich wie in Druck und Skam). Presseberichte (z.B. Heine 2019) lassen aber eine erneute Konzentration auf die Heldin Laura vermuten. Ihre Darstellerin, Lisa-Marie Koroll aus den Bibi & Tina-Kinofilmen (D 2014/2014/2016/2017), ist zudem die deutlich prominenteste im Ensemble. Die Kamera ist immer wieder nah an ihr und den weiteren Teenagerfiguren. Eine Intimität wird zudem durch Liebeszenen und häufige Handlungsorte wie die Schultoilette oder Lauras Jugendzimmer suggeriert. Mehrfach ist sie auf ihrem Bett zu sehen, beispielsweise, wenn sie dort sitzend versucht, mit Daniel für die Schule Die Leiden des jungen Werthers zu lesen. Ihre Blicke treffen sich und sie umkreist im Text schließlich einzelne Wörter, um ihm ihre Liebe zu gestehen. Anders als in dieser ruhigen, romantischen Szene konzentriert sich die Serie aber nicht durchgehend auf ihre Figuren und deren Gefühlsleben, sondern ist eher um Handlungsumschwünge und Cliffhanger bemüht. Am Ende der ersten Staffel kommen externe Charaktere und ein Handlungsstrang hinzu, der auf exploitative Weise eine Missbrauchserfahrung behandelt und nur noch im vagen Zusammenhang mit dem Liebesdreieck um Laura und seine Folgen steht. Die Schwerpunktsetzung auf Dramatik statt Alltagswelt (auch dies ein Unterschied zu Druck und Skam) ist bereits in der Auftaktsequenz zu erkennen, wenn Laura in einer Vorblende auf die Schultoilette flüchtet und sie Mitschülerinnen dort als „Hure“ beschimpfen. Mit diesem Foreshadowing greift die Pilotfolge ein dramaturgisches Stilmittel aus zahlreichen anderen horizontal erzählten Serien der Gegenwart – wie z.B. Breaking Bad (USA 2008–2013, AMC) – auf. Es evoziert die Frage, wie es soweit kommen konnte, und dient so dem Spannungsaufbau.

Themen und Werte

Einteilungen von jungen Frauen in ‚Schlampe‘ und ‚Hure‘, wie sie in dieser Vorblende und anderer Stelle vorkommen, werden nur bedingt kritisch reflektiert. Wir sind jetzt thematisiert zwar Missbrauch und beinhaltet lesbische und schwule Nebenfiguren, reicht aber kaum an die (post-)feministischen Auseinandersetzungen mit MeToo, Diversität und weiblicher Solidarität in anderen zeitgenössischen Jugendserien wie etwa Druck heran. Den sogenannten Bechdel-Test, nach dem es in Filmen und Serien a) mindestens zwei Frauen geben muss, die b) miteinander reden und c) über etwas Anderes als Männer, erfüllt die Serie jedenfalls nicht. Die lesbische Mitschülerin darf zwar einwenden, was am Singlestatus so schlimm sei, doch ansonsten stellen Jungen den zentralen Gesprächsstoff dar. Das liegt zunächst an der Grundkonstellation, dem Liebesdreieck um Laura, Olli und Daniel. Darüber hinaus lässt die Serie immer wieder die Chance verstreichen, kritischer und nuancierter von jugendlichen Geschlechterbeziehungen zu erzählen, zum Beispiel, wenn Olli Laura an Daniel für einen Kuss ‚verleihen‘ will. Der Drehbuchautor Burkhardt Wunderlich und der Regisseur Christian Klandt, der durch seinen Spielfilm Little Thirteen (D 2012) bereits über gewisse Erfahrungen in Jugendnarrationen verfügt, wollten in diesem Zusammenhang vermutlich eine zu pädagogische Herangehensweise vermeiden. Probleme der Jugendlichen, wie eine ungeplante Schwangerschaft oder Mobbing in analoger und digitaler Form, werden eher beiläufig miterzählt. Wenn die Jungen kiffen und die Mädchen harten Alkohol konsumieren, bleibt eine Bewertung aus. Die medienpädagogische Webseite Flimmo warf der Serie vor, „fragwürdige Inhalte“ zu vermitteln und Themen wie Drogenmissbrauch oder sexuelle Übergriffe nur oberflächlich anzuschneiden (o. A. 2019). Der Mangel an einem pädagogischen Impetus scheint zumindest gelungen, wenn Smartphone und soziale Medien als selbstverständlicher Teil der jugendlichen Lebenswelt geschildert werden. Konflikte werden dort ausgetragen oder spitzen sich zu, zum Beispiel, wenn eine Sprachnachricht offenbart, dass Laura lügt. Wie in anderen Serien der Gegenwart werden Textnachrichten eingeblendet. Die Inserts zu Wochentagen und Uhrzeiten sind eine deutliche Reminiszenz an Druck und Skam.

Distribution und Produktion

Wie die transmedialen Jugenddramen Skam und Druck bindet Wir sind jetzt soziale Medien in die Distribution ein, verfolgt aber nicht in gleicher Konsequenz eine Echtzeit-Strategie (nach der Szenen genau dann veröffentlicht werden, wenn sie in der fiktiven Handlungszeit spielen). Ein Videokanal auf Instagram enthält zwar Szenen aus einzelnen Folgen – auch auf Facebook und YouTube finden sich Ausschnitte –, aber die Geschichte um Laura verbreitet sich nur begrenzt über verschiedene Internetangebote, soll sie doch zugleich als zahlungspflichtiger Premium-Content für TV Now funktionieren. Die Serie wurde zuerst in wöchentlichem Rhythmus auf dieser Plattform veröffentlicht und ist dort neben anderen ‚exklusiven‘ Inhalten wie der deutsch-österreichischen Arthouse-Miniserie M – Eine Stadt sucht einen Mörder (2019, TV Now/ORF) oder der schwulen Datingshow Prince Charming (2019) anzutreffen, aus denen sich noch keine klare Webstrategie dieses Streaminganbieters ergibt. In der linearen RTL II-Primetime erreichte Wir sind jetzt als Höchstwert 0,39 Millionen Zuschauer*innen. Nach alten Quotenmaßstäben ist dies ein zu kleiner Wert für fiktionale Eigenproduktionen. Für das Weiterleben waren aber wohl eher die Online-Distribution und das Versprechen, ein jugendliches Publikum zu erreichen, von Belang. Bereits vor der Fernsehausstrahlung wurde eine zweite Staffel geordert, die Medienboard Berlin-Brandenburg mit einer nochmals deutlich erhöhten Summe von 250.000 Euro fördert (vgl. Niemeier 2019); für eine dritte Staffel wurden zumindest Drehbücher beauftragt (vgl. Mantel 2020). Mit gestiegenem Produktionsbudget mögen die narrativen Ausweitungen auf verschiedenen Plattformen zunehmen. Die überschaubare Folgenzahl, die ähnlich wie bei anderen deutschen Serien aus dem Nachwuchs- und Jugendbereich ökonomische Gründe hat, steht indes einer nachhaltigen transmedialen Verbreitung eher im Wege.


Angaben

Staffeln: 1+ (Staffel 2 in Produktion, Staffel 3 in Entwicklung)
Episoden: 4+
Episodenlänge: ca. 45 Minuten
Erscheinungsrhythmus: wöchentlich
Zuerst gezeigt auf: TV Now
Idee: Burkhardt Wunderlich (Drehbuch)
Regie: Christian Klandt
Produktion: Producers at Work für TV Now und RTL II (Produzent: Christian Popp)
Jahr: 2019
Genre: Coming-of-Age-Drama, Teenagerserie/Jugendserie


Abrufbar unter:

TV Now (Premium): https://www.tvnow.de/serien/wir-sind-jetzt-17556 (Zugriff: 03.12.2019)


Forschungsliteratur

Grampp, Sven (2020): „Drawing Certain Teens Together: Über die allmähliche Verfertigung des Teen TV im Network Television“, in: Krauß, Florian/Stock, Moritz (Hgg.): Teen TV: Repräsentationen, Lesarten und Produktionsweisen aktueller Jugendserien. Wiesbaden: Springer VS, S. 33–62.
O’Neill, Patrick (2016): Investigating the 1980s Hollywood Teen Genre: Adolescence, Character, Space. Kingston: Kingston University.


Sonstige Quellen

Heine, Frank (2019): „RTL II dreht zweite ‚Wir sind jetzt‘- Staffel“, in: Blickpunkt Film, 8. Juli. http://beta.blickpunktfilm.de/details/441677 (Zugriff: 12.05.2020).
Krei, Alexander (2019): „‚Mit Zunge oder ohne?‘: RTL II und die Jugend von heute: DWDL.de-Serienkritik zu ‚Wir sind jetzt‘“, in: DWDL.de, 28. April. https://www.dwdl.de/meinungen/72072/mit_zunge_oder_ohne_rtl_ii_und_die_jugend_von_heute_/ (Zugriff: 12.05.2020).
Mantel, Uwe (2020): „‚Wir sind jetzt‘: Staffel 3 wird schon entwickelt“, in: DWDL.de, 29. Januar. https://www.dwdl.de/nachrichten/75971/wir_sind_jetzt_staffel_3_wird_schon_entwickelt/?utm_source=&utm_medium=&utm_campaign=&utm_term= (Zugriff: 12.05.2020).
Niemeier, Timo (2019): „‚Wir sind jetzt‘: RTL II zeigt Serie noch im Mai im TV“, in: DWDL.de, 3. Mai. https://www.dwdl.de/nachrichten/72145/wir_sind_jetzt_rtl_ii_zeigt_serie_noch_im_mai_im_tv/?utm_source=&utm_medium=&utm_campaign=&utm_term= (Zugriff: 12.05.2020).
o. A. (2019): „Neues Format auf RTL II: Wir sind jetzt“, in: Flimmo, 17. Mai. https://www.flimmo.de/flimmo-hilft-durchblicken/redaktioneller-inhalt/fragwuerdige-teenie-serie-wir-sind-jetzt/controller/show/Content/ (Zugriff: 12.05.2020). 



 (Florian Krauß, 12.05.2020)