Sickhouse


von Martha-Lotta Körber //


Sickhouse ist ein aus Snapchat-Stories bestehender Horrorfilm, der einen Ausflug von vier jungen Erwachsenen in einen Wald bei L.A. – vermeintlich – dokumentiert. Als zusammenhängender Film wurde er Anfang Juni 2016 veröffentlicht, nachdem das pseudo-authentische Material kurz zuvor auf dem Snapchat-kanal des Internet-Stars Andrea Russett seriell veröffentlicht wurde, der sich in der Webserie selbst spielt.

 

Handlung

Die extrovertierte Vloggerin Andrea wird überraschend von ihrer schüchternen Cousine Taylor in L.A. besucht. Diese habe Ärger zuhause in Ohio, sei von ihrer Schule geflogen und brauche ein paar Tage Abstand, insbesondere von ihrer aufgebrachten Mutter. Andrea möchte sie auf einen bereits geplanten Trip in einen nahegelegenen Wald mitnehmen, in dem das von urbanen Legenden umwobene „Sickhouse“ stehen soll. Mit Sozialen Medien unerfahren, filmt Taylor in den folgenden Tagen viele ‚private‘ Momente und postet diese, nachdem Andrea ihrer Cousine ihr Handy und damit ihren reichweitenstarken Snapchat-Account überlassen hat. Als die beiden ein paar Tage in der Stadt verbracht haben, schließen sich ihnen Andreas Freunde Sean und Lukas an, die sie zuvor auf einer Hausparty getroffen haben und die ebenfalls prominent in Sozialen Medien vertreten sind. Mit dem Auto machen sie sich zu viert auf den Weg in das Waldgebiet, um das Sickhouse zu finden. Bereits vor ihrer Abfahrt in L.A. und während ihrer Zwischenstopps wird den Jugendlichen nahegelegt, sich von dem haunted house fernzuhalten. So mahnt eine ältere Frau in einem Diner, dass dort vor Jahren unter ungeklärten Umständen „acht oder neun Leichen“ gefunden worden seien. Im Wald angekommen, albern Taylor, Andrea, Sean und Lukas trotzdem zunächst herum, unterhalten sich am Lagerfeuer, haben Liebeleien und spielen sich Streiche, um sich gegenseitig zu erschrecken. Auf der Suche nach den Hinweisen, die den Erzählungen und einer Homepage zufolge zum Sickhouse führen sollen, kippt die Stimmung allmählich, sodass Streitigkeiten entstehen. Die Freund*innen verlieren die Orientierung, aber finden letztendlich ihr Ziel.


Abbildungen: Screenshots aus Sickhouse.

Themen

Während ihres gesamten Trips unterhalten sich die jungen Internet-Celebrities Andrea, Sean und Lukas mit Taylor über ihre Generation und Sozialisation mit und in Sozialen Medien. Insbesondere Taylor spricht kritisch von digitalen Medien als eine „Plage“, die Menschen voneinander entferne und auf attraktive Profile reduziere. Dabei ist es paradoxerweise insbesondere sie selbst, die zugleich fasziniert von Snapchat ist, und mittels des Handys ihrer Cousine das Geschehen ungeniert filmt und postet, dem vielstrapazierten Anspruch der ‚Authentizität‘ am konsequentesten gerecht zu werden versucht und dabei sogar ihre Cousine beim Sex mit Sean aufnimmt. Ihre Unerfahrenheit und Unfähigkeit, jene Inhalte, die für Snapchat geeignet wären, ‚richtig‘ zu filtern, erhöht die Attraktion der Stories. Damit korrespondierend, wird in den Gesprächen der jungen Erwachsenen auch immer wieder explizit auf Taylors ‚Jungfräulichkeiten‘ in Hinblick auf die Stadt L.A., Drogen und Sexualität hingewiesen, welche sie mit fortschreitender Handlung allesamt ‚verlieren‘ wird. Taylors auf diese Weise kondensiert dargestelltes Erwachsenenwerden gipfelt mit ihrer Selbstfindung im Sickhouse.

 

Genre

Die Selbstfindung Taylors korrespondiert eng mit der Privatheit- und Intimität-suggerierenden Vlog-Form und realisiert sich in Taylors somatischen Nähe zur Kamera sowie der exzessiven Artikulierung ihrer Gefühle. Zum anderen schwingt eine genretypische sexuelle Komponente mit, während das Thema ‚Verlust von Unschuld‘ entlang ihrer Rolle ausgebreitet wird. Dieses Motiv ist dem Horror eigen, der – spätestens seit Brian de Palmas Carrie (1976) – häufig Emanzipations-, Adoleszenz- und Rachegeschichten junger Frauen verhandelt.

Sickhouse ist nicht nur ein pseudo-authentischer Horrorfilm, sondern wirkt vor allem wie eine Reminiszenz an den Independent Erfolg The Blair Witch Project (1999, Daniel Myrick, Eduardo Sánchez). Dieser hat zur Jahrtausendwende ein Subgenre des Horrors etabliert, das den vielen als torture porn geltenden und Spezialeffekt-lastigen gore-Horrorfilmen der 2000er-Jahre entgegenläuft. „Gemeint ist damit eine erstaunlich anmutende Rückkehr zu einer Form des reduzierten und dabei nicht minder an der Reaktion der Zuschauer abzulesenden wirksamen Horrors […], der Fiktion im Gewand dokumentarischer Darstellungsmodi präsentier[t]“ (Haupts 2012, 52 f). Der populäre found-footage-Film mit ähnlich gelagerter Handlung wird in Sickhouse von Lukas sogar dezidiert angesprochen („So have you guys ever seen The Blair Witch Project?“), woraufhin die Gruppe scherzhaft seine immersive Machart nachstellt und sich bei einem nächtlichen Ausflug mit wackelnder Handykamera überzeichnet vor einem Waschbecken erschreckt. Neben dieser expliziten Erwähnung des Films, orientiert sich Sickhouse aber vor allen Dingen an dessen damals aufsehenerregenden Prämisse: der Suggestion von authentischen Videoaufnahmen einer intradiegetischen Kamera. Im Falle von Sickhouse wird diese mit dem Vloggerinnen-Dasein Andrea Russetts plausibel gemacht und unter anderem um den Aspekt der liveness bereichert.

Auch der Plot ist in seiner Eskalationslogik und Entwicklung vom Realismus hin zur Fantastik vergleichbar mit dem ‚Dokumentarfilm-Projekt‘ der Filmstudent*innen in The Blair Witch Project. Andrea, Taylor, Sean und Lukas fahren in den Wald, um sich gemeinschaftlich zu gruseln und einander näher zu kommen – gewissermaßen mit den Seherfahrungen diverser Teen- und Backwood-Horrorfilme im Hinterkopf, die das US-amerikanische Kino hervorgebracht hat. In diesen Filmen verlassen nicht selten junge Großstädter*innen den urbanen Raum, um im Wald (The Evil Dead, 1981, Sam Raimi), in den Bergen (The Hills Have Eyes, 1977, Wes Craven) oder bei ‚Hinterwäldlern‘ (The Texas Chainsaw Massacre, 1974, Tobe Hooper) eine unzivilisierte, vom Mythos und Gewalt beherrschte Seite der USA kennenzulernen. Es geht den Protagonist*innen in Sickhouse bei ihrem Ausflug also zunächst um ein harmloses, abgeklärtes und lustvolles Gruseln, das in Folge des Horrorkinos integraler Teil von US-Jugendkultur geworden ist und als solches längst selbst wiederum Eingang in den Horrorfilm gefunden hat (z. B. 1996 mit Wes Cravens genrereferentiellem Scream).

Neben den klassischen Genremodalitäten und dem überdeutlichen Bezug zu The Blair Witch Project, fungiert ein anderer Meilenstein des Horror-Genres als konkretes böses Omen: A Nightmare on Elm Street (1984, Wes Craven). So summt die mitunter labil wirkende Taylor mehrfach die berühmte Melodie des Kinderliedes über Freddy Krueger („One, two, Freddy is coming for you …“), der Teenager*innen in ihren Träumen heimsucht und ermordet. Sowohl bei den Protagonist*innen als auch den jungen Zuschauer*innen sind viele Referenzen rund um den cabin-in-the-woods-Plot also vermutlich bekannt. Die Angstschwelle ist daher vergleichsweise hoch und muss mit ästhetisch-erzählerischen Mitteln überwunden werden.

 

Ästhetik und narrative Struktur

In der 68-minütigen Filmversion von Sickhouse wird das Material – in Anlehnung an The Blair Witch Project – durch vorangestellte Texttafeln pseudo-authentifiziert: „In April 2016, a group of friends in Southern California set off to find Sickhouse […]. The group postet the entire trip live via cell phone to Andrea Russett’s Snapchat. Millions watched that events unfold in real-time.“ Ursprünglich als Stories auf dem Snapchat-Kanal von Andrea Russett („andwizzle“) veröffentlicht, ist Sickhouse in seiner Filmfassung aus den vielen kurzweiligen Videosequenzen im engen 9:16-Format zusammenmontiert. Entsprechend folgt mindestens alle zehn Sekunden ein Schnitt, was neben der direkten Adressierung und Ansprache der Kamera und Follower*innen ein markantes Stilmittel darstellt und das Smartphone sowie die App Snapchat als die zentrale mediale erzählerische Rahmung ausweist. Die Begrenztheit der filmischen Möglichkeiten durch die Konfiguration der App wird dabei zum ästhetisch-erzählerischen Prinzip und bezieht ihren Reiz auch aus der Informationslimitation. Etwa wenn Zuschauer*innen ahnen, dass die Protagonist*innen mehr sehen als sie selbst und ob chaotischer Handykamerabewegungen lediglich erhaschen können, was passiert (vgl. Kuhn 2013, 104 f). Wie für die vermeintlich spontan entstandenen Stories in Sozialen Medien typisch, werden sie manchmal von rasch hinzugefügten Textelementen überlagert. Damit wird suggeriert, dass diese jeweils von der in der Diegese filmenden Person ergänzt wurden und entlarvend oder mit ironischem Unterton Deutungen für die auf diese Weise einbezogenen Zuschauer*innen vornehmen.

Ihre Informationen über das Sickhouse beziehen die jungen Erwachsenen von einer nach wie vor existierenden Homepage mit der Adresse „visitsickhouse.com“, die sich noch abrufen lässt und die Geschichte des Hauses entlang einer Ehe erzählt, die sich dort ereignet und ein tragisches Ende gefunden haben soll (letzter Zugriff: 03.02.2021). Ebenso wie die Snapchat-Stories plausibiliert die wohl mit Absicht unprofessionell und in die Jahre gekommen wirkende Homepage als augenzwinkernder Paratext die Ereignisse in Sickhouse.


Abbildungen: Screenshot aus Sickhouse (links), Screenshot der Homepage „visitsickhouse.com“ (rechts).


Produktion, Kontext und Medienumgebung

Sickhouse wurde als Webserie – oder nach Aussage Russetts als „Live-Snapchat-Horrorfilm“ – über einen Zeitraum von fünf Tagen gefilmt und zeitnah auf ihrem Kanal „andwizzle“ publiziert. In dem Messengerdienst werden Inhalte 24 Stunden nach ihrem Upload gelöscht, weshalb sie in ihrer originalen Veröffentlichungsform als kurze Stories nicht mehr verfügbar sind. Die fiktionalen Stories wurden als solche nicht angekündigt oder markiert, sodass Russetts Follower*innen den Trip zunächst für authentisch hielten (bzw. halten konnten) und erst im Laufe der Geschichte oder im Nachhinein – etwa via YouTube-Video – explizit über die Fiktionalität des Projekt aufgeklärt wurden. Gleichzeitig wurde so Promotion für den Film gemacht.

Die Regisseurin und Autorin Hannah Macpherson hätte lediglich Plotpoints definiert, die Taylor verkörpernde Schauspielerin Laine Neil und schauspielenden Influencer*innen einen großen Teil der Dialoge zugunsten der suggerierten Authentizität improvisieren lassen und dabei von deren Erfahrung vor der Kamera und insbesondere in der Zuschauer*innenansprache profitiert. Denn neben Andrea Russett sind auch die sich selbst verkörpernden Lukas Cage, Sean O’Donnell und JC Caylen Celebrities in Sozialen Medien. Sickhouse greift dies mehrfach auf, etwa wenn während einer Party befürchtet wird, von Fans belästigt zu werden, oder Taylor eine Aufnahme von Sean O’Donnell mit den Inserts „@theseanodonell“ und  „instafamous“ versieht, was auch als Cross-Promotion-Strategie funktioniert haben könnte. Gleichzeitig wirkten die Existenz der Influencer*innen für den Plot von Sickhouse (zumindest bevor sich dieser der Fantastik öffnete) als intermedial-authentifizierendes Mittel und ihre Accounts als Paratexte des Films, die zum zeitgleichen Recherchieren nach Hinweisen über die eigentliche ,Serie‘ hinaus einluden.

Die Illusion der Echtzeit und die – wenn auch nur als cleverer Gag rezipierte – Pseudo-authentizität der Snapchat-Stories und ihrer real existierenden Internet-Prominenten lassen sich in der heutigen Spielfilmform leider nicht mehr rekonstruieren.

 

Angaben

Staffeln: -
Clips: -
Episoden: -
Episodenlänge: 68 Min. (Filmversion)
Zuerst gezeigt auf: Snapchat
Regie: Hannah Macpherson
Produktion: Jon Avnet, Rodrigo García, Jacob Avnet, Hannah Macpherson, Kip Pastor, Clay Reed, Andrea Russett
Autor*innen: Hannah Macpherson
Jahr: 2016
Genre: Horror/Teen-Horror/Thriller
 

Abrufbar unter: 

Derzeit nicht kostenlos online verfügbar (Stand: 01.01.2021).

Käuflich unter https://vimeo.com/ondemand/sickhouse (Stand: 01.01.2021).

 

Forschungsliteratur

Haupts, Tobias (2012): Mind the Tape. Der Horror in/der Echtzeit. In: Otto, Isabell; Haupts, Tobias (Hg.): AugenBlick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft. Heft 51: Bilder in Echtzeit. Medialität und Ästhetik des digitalen Bewegtbildes. 5062.

Kuhn, Markus (2013): Das narrative Potenzial der Handkamera. Zur Funktionalisierung von Handkameraeffekten in Spielfilmen und fiktionalen Filmclips im Internet. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research 2.1. (2013). 92–114.

 

Sonstige Quellen

Homepage „visitsickhouse.com“: http://visitsickhouse.com/ (Letzter Zugriff: 03.02.2021).

YouTube-Clip „I Survived Sickhouse | Andrea Russett“ des Kanals Andrea Russett (04.05.2016): https://www.youtube.com/watch?v=8D6guRcSN4Q (Letzter Zugriff: 01.01.2021).

 

Martha-Lotta Körber (03.02.2021)