L‘Effondrement [The Collapse]


von Martin Platte //


Unter dem Motto: Was wäre, wenn alle Ressourcen aufgebraucht wären, Geld keine Rolle mehr spielte und unser System völlig erschüttert wäre?“ behandelt die acht Episoden umfassende, anthologisch erzählende Katastrophenserie The Collapse den Systemzusammenbruch Frankreichs. Die für den Privatsender Canal Plus Creation Decalee  produzierte französische Fernseh- und Webproduktion des Kollektivs Les Parasites wurde zwischen dem 11. November 2019 und 2. Dezember 2019 veröffentlicht. Jeweils um einen Tag versetzt wurde sie regional auf dem YouTube-Kanal des Produktionskollektivs bereitgestellt.


Thematische und narrative Struktur

Die Episoden sind mit den jeweiligen Örtlichkeiten des Handlungsraums betitelt. Ein Insert setzt den Raum zu Beginn jeder Folge in Relation zum Tag X – z. B. „2 TAGE DANACH“ –  und verzichtet auf eine spezifische Zeitangabe in Form eines Datums. Ein intradiegetisches Fernsehprogramm sowie verschiedene Informationsfetzen lassen Rückschlüsse auf mögliche Ursachen des Kollapses zu: So seien Ölreserven aufgebraucht, Flora und Fauna kontaminiert. Die Raum-Zeit-Struktur und die angedeuteten multiplen Ursachen des Zusammenbruchs laden ihn als Version des ,Jüngsten Tages‘ mythisch-apokalyptisch auf; eine Darstellung der tatsächlichen Katastrophe – der neuralgische Punkt vieler Katastrophenfilme – bleibt aus. Lediglich auf narrativer Ebener ist der Zeitpunkt der Katastrophe zentral. Durch ihre achronologische Struktur eröffnet die Serie in der ersten Episode „Der Supermarkt“ mit dem bereits kollabierten Zustand und nicht mit der filmischen Standardsituation einer anfänglich noch intakten Gesellschaftsordnung. Ein präkatastrophaler Zustand wird erst am Serienende gezeigt; so werden die zeitlichen Extrempunkte der 175 Tage umfassenden Filmzeit in Episode 7 „Die Insel“ („170 TAGE DANACH“) und Episode 8 „Die Live-Sendung“ („5 TAGE DAVOR“) direkt nacheinander platziert.

Jede Episode erschließt einen neuen scheinbar hermetischen Mikrokosmos mit einem eigenen Figurenpersonal. Angefangen mit der Stadt bewegt sich der demonstrierte Handlungskosmos zunehmend in Richtung der Peripherie und ländlicher Räume. So beginnt The Collapse in einem Supermarkt in Paris und führt episodisch über die Vorstadt bis zum offenen Meer.  Die gezeigten Orte sind an konkrete Zeitpunkte geknüpft und präsentieren den partiellen Zerfall der Gesellschaftsordnung durch ihre spezifische Raumsemantik. Das Zusammenspiel von territorialer und temporaler Verknüpfung einzelner Episoden veranschaulicht die Vulnerabilität des jeweils repräsentierten Systemfragments.

Die Serie teilt die acht Folgen in vier dramaturgische Unterkategorien. So zeigen die ersten beiden Episoden den unmittelbaren Effekt der Krise und binden ihn jeweils an profane Wirtschaftssparten: „Der Supermarkt“ etabliert das kollektive Zerbrechen des Systems, anhand zusammenbrechender Lieferketten. Gleichsam fällt der Strom regelmäßig aus, das digitale Bezahlsystem und Bankautomaten sind defekt, Produkte des täglichen Bedarfs fehlen. Der auszubildende Omar arbeitet in seiner Alltagsroutine, bis seine Partnerin und Freunde den Laden betreten, um ihn abzuholen und Vorräte zu kaufen ehe sie heimlich die Stadt verlassen wollen. Zwischen der Systemflucht und dem Festhalten an erodierenden Normen entscheidet er, seine Partnerin und die Freunde nicht zu begleiten, um seine Ausbildung zu beenden.

Die in der zweiten Episode thematisierte Tankstelle hat nach fünf Tagen sämtliche Benzinreserven aufgebraucht, die Besitzer*innen wenden sich vom Geldsystem ab und etablieren unter dem Postulat des freien Markts ein Tauschsystem: Lebensmittel in Form von Konserven oder Schokolade für Benzin. Das Gewaltmonopol des Staates, durch einen Polizisten repräsentiert, bröckelt, als dieser Waffengewalt einsetzt, um sich einen ‚Marktvorteil‘ zu verschaffen. Das Gesetz des wirtschaftlich Starken weicht dem Recht des physisch Stärkeren, die Eigentumsverhältnisse werden aufgelöst als die Masse die Besitzer ausraubt und dessen Kleinbus entwendet. Waffen werden zum direkten Instrument von Macht und somit Verteiler von Eigentum und postwirtschaftlicher Potenz.

 

Abbildung: Screenshot aus The Collapse (Episode 2: „Die Tankstelle")

Die folgenden zwei Episoden demonstrieren Miniaturen neuer Gesellschaftsentwürfe. „Der Flugplatz“ thematisiert das Wissen des Staates um die bevorstehende Krise und dessen Vorkehrungen. Eine Insel wurde aufgebaut und die im vormals kapitalistischen System privilegierten Personengruppen informiert, über ein Ticketsystem konnten sie sich einkaufen – den eigenen Fortbestand sichern. 

„Der Weiler“ zeigt einen Versuch, eine neue Gesellschaftsordnung über basisdemokratische Strukturen zu bilden. Die Integration in den Weiler geschieht über Kosten-Nutzen-Denken gegenüber den individuellen Fähigkeiten. Kapitalismusspezifische Berufsformen wie Verkäufer*in werden reflektiert und deren Sinnlosigkeit innerhalb der neuen Ordnungsentwürfe vorgeführt. In der fünften Episode zeigt sich der Zerfall der Technologie durch die Explosion eines Atomkraftwerks, anschließend wird in der sechsten Episode ein verlassenes Altersheim dargestellt, in welchem 50 Tage nach dem Kollaps/Tag X die letzten pflegebedürftigen Personen sterben. Inhaltlich verknüpft werden die Folgen durch das Verhalten ihrer scheiternden Protagonisten, die den Zusammenbruch eines Atomkraftwerks und eines Altersheims verzweifelt zu verhindern suchen. Die letzten Episoden spiegeln den Zustand nach 170 Tagen am ehemaligen Status Quo, fünf Tage vor dem Kollaps, wider. Staatliche Institutionen und dessen Vertreter*innen werden nachträglich als bereits von der Wirtschaft ausgehöhlt und korrumpiert vorgeführt.

Folge 8 – „Die Live-Sendung“ – zeigt, wie Wissenschaft und Staat in einem Talkshow-Format einen asymmetrischen Diskurs um die drohende Katastrophe führen. Argumente und Datenlagen werden seitens des Umweltministeriums als blanker Pessimismus disqualifiziert und der Showmaster erhofft sich eine hohe Quote durch Polarisierung. Die neu geschaffene Insel mit exklusivem Zugang zeugt indes von dem Kalkül, wissenschaftliche Erkenntnis nur im elitären Personenkreis nutzbar zu machen, während die Öffentlichkeit durch Desinformation von dem Wissen und der Möglichkeit präventive Vorkehrungen zu treffen, ausgeschlossen wird. Die Serie erzählt von den Auflösungsprozessen einer spätkapitalistischen Gesellschaft, in der das Geld als universales Tauschmittel nicht mehr existiert und durch Rohstoffbesitz ersetzt wurde.


Abbildungen: Screenshots aus The Collapse (links: Episode 1:Der Supermarkt", rechts: Episode 8: Die Live-Sendung")


Genre

Im Subgenre des Naturkatastrophenfilms wird häufig die Erhabenheit einer gewaltigen Natur mit der Geringfügigkeit von Menschen und Gesellschaft der Kultur – konfrontiert (vgl. Chung 2016). Ästhetische Spektakel, wie sie im Naturkatastrophen-Blockbuster aneinandergereiht werden – etwa in 2012 (Roland Emmerich, USA 2009) oder The Day After Tomorrow (Roland Emmerich, USA 2004) – bleiben in The Collapse aus; stattdessen seziert die Serie den Zerfall als gesellschaftlichen Prozess in verschiedenen, mehr oder weniger banalen kleineren Subsystemen, z. B. im Atomkraftwerk, Altersheim oder an der Tankstelle. Die anthologische Struktur weicht außerdem vom narrativen Standard des Naturkatastrophenfilms ab, wie ihn Stephanie Großmann im Dreiphasenmodell festgehalten hat. Die genretypische Grundstruktur setzt sich demnach aus verschiedenen Teilen zusammen: erstens der Zustandsdarstellung der präkatastrophalen Ordnung; zweitens einem anschließenden Kollaps, der diese erodieren lässt; drittens dem schlussendlichen Wiederaufbau einer neuen Ordnung (vgl. Großmann 2012, 98). Ein solch transformierender Prozess bleibt in The Collapse durch den Fokus auf die Auflösungsprozesse aus, ob funktionierende Ordnungen dauerhaft wiederhergestellt werden können ist ebenfalls offen. Durch die Darstellung einer post-katastrophalen basisdemokratischen Sozialstruktur im Weiler einerseits und die abgeschottete Insel der Eliten andererseits werden nur Andeutungen hinsichtlich einer potenziellen Re-Systematisierung der Menschheit gemacht.

 

Ästhetik

Jede Episode besteht aus einer einzigen Plansequenz die zeitdeckend erzählt, was dramaturgisch für den Spannungsaufbau funktionalisiert wird. So beinhaltet z. B. die Folge 3 – „Der Flugplatz“ – ein 16-minütiges Zeitfenster, in dem der Protagonist einen Flug erreichen muss, das Erreichen des Flugplatzes nach erst 17 Minuten führt dazu, dass er diesen verpasst.

Durch Handkamera-Effekte wird nahegelegt, dass das Filmen Bestandteil der diegetischen Welt selbst sein könnte. Wenngleich die Existenz der Kamera oder einer filmenden Person dahinter nicht explizit gezeigt wird, kann der visuellen Instanz eine räumliche und bisweilen anthropomorphisierte Präsenz innerhalb der Diegese zugesprochen werden. So benötigt die Kamera scheinbar einen eigenen Sitzplatz auf der Rückbank der Limousine des Bourgeois Laurent Desmarest auf dem Weg zum Flughafen, außerdem stürzt sie bei der ersten Explosion des Atomkraftwerks in Episode 5, das Bild verschwimmt ehe es sich wieder, aufrichten’ kann. In der Perspektivierung ist sie dabei eigenwillig, indem sie die jeweils handlungstragende Figur begleitet, aber ihre Aufmerksamkeit auffällig anderen Personen zuwendet, sobald diese die Handlungsmacht übernehmen. Ein entscheidendes Moment ist dabei, dass die Kamera in Fluchtsituationen immer bei jenen Figuren bleibt, die dem Ort des Chaos entgehen können und, entkommt somit stets selbst. 


Abbildung: Screenshot aus The Collapse (Episode 2: Die Tankstelle“)

Die Figuren verhalten sich ihr gegenüber weder interagierend, anerkennend noch handlungsbeeinflussend, jedoch fungiert die Kamera als wertende Instanz, wenn sie z.B. diskret den Blick abwendet, als der Pfleger Marco sich in Episode 6 entscheidet, den Bewohner*innen des Altenheims Sterbehilfe zu leisten. Kamerawinkel verändern sich nicht im Verlauf der Handlung und lassen sich samt Körperlichkeit einem menschlichen Blick zuordnen, was eine Art dokumentarische Zeugenschaft suggeriert. So erinnert die Kameraführung an eine ‚Lost-Footage-Ästhetik‘ wie sie in Cloverfield (Abrams, J.J, USA 2008) wiederzufinden ist, jedoch ohne eine amateurhafte Kameraführung zu simulieren oder die eigene technische Limitierung zur Schau zu stellen.


Vermarktung

Die Rekonstruktion der Vermarktungsstrategie von Canal Plus Creation Decalee ist nicht mehr möglich. Teaser zur den jeweiligen Folgen und der Gesamtserie sind noch auf dem YouTube-Kanal der Produktionsfirma Les Parasites zu finden. Bemerkenswert ist, dass die Serie über verschiedene Portale unterschiedlich vertrieben wird. So ist sie käuflich erwerblich über Amazon.com, AppleTV und MyCanal zudem bietet der Verleih Studio Canal sowie die zugehörige Marke Arthaus The Collapse seit dem 5. November 2020 als Video-on-Demand an. Insgesamt hat sich die Vermarktung in den zwei Jahren nach der Premiere gewandelt: von einer Kleinstproduktion für das französische lineare Fernsehen und YouTube zu einer Arthaus-Marke.

 

Mediale Umgebung

Hinsichtlich der Einbettung in ihren medialen Kontext zeigt sich The Collapse in ihrer erfolgreichen multimedialen Verbreitung als Webserien-Grenzfall. So ist sie mittlerweile auf Amazon Prime Video, Joyn.de und Apple TV in ein Umfeld von Streaming-Diensten eingebettet. Erstveröffentlicht wurde die Serie gleichermaßen im französischen Fernsehen, als auch auf YouTube, wo sie in den interaktiven Plattformkontext eingebettet ist (Stand 07.07.2021 ist die Serie auf dem Youtube Kanal von Les Parasites nicht in der Region Deutschland abrufbar). Eine klare Rückgebundenheit an ein distinktives Dispositiv und damit einen festgelegten Rezeptionsraum ist somit nicht gegeben. The Collapse changiert zwischen einer klassischen Fernsehproduktion und Webproduktion. Inzwischen wird sie einerseits kostenpflichtig distribuiert und sogar von Arthaus unter dem Vertriebsslogan „Besondere Filme“ geführt, während sie andererseits auf Joyn.de weiterhin kostenlos zu sehen ist. So zeugt die Serie von Grenzziehungsproblemen serieller Produktionen durch eine größer werdende Crossmedialität seit der Etablierung von Video-On-Demand-Diensten.  

 

Rezeption

Die internationale Veröffentlichung von The Collapse fiel mitten in die Covid-19-Pandemie. Verweisend auf die durch einen Ausnahmezustand ausgelösten Zukunftsängste betont der Filmblogger Bessay Garcia Benetiz die erschreckenden Gemeinsamkeiten der fiktiven und realen Krise. Besonders auffallend seien die Parallelen aus „Der Supermarkt“ mit den Erlebnissen der ersten Monate nach dem Ausbruch der Pandemie. So spiegelte der Mangel an Produkten des täglichen Bedarfs in The Collapse die Hamsterkäufe wider, welche international in der Presse resonierten. Im fiktiven Supermarkt steht der Tampon als basaler Hygieneartikel stellvertretend für solche Produkte, die während der ‚Hamsterkäufe‘ gehortet wurden und in deren hoher Nachfrage sich ein panisches Festklammern an zivilisatorischen Ordnungsprinzipien ausdrückt. Dem Produkt gegenübergestellt ist in The Collapse außerdem ein Schokoladenaufstrich als verbreitetes Luxuslebensmittel, stellvertretend für eine gesamte Produktpalette von Konsumgütern moderner Gesellschaften mit fragwürdiger Ökobilanz (hier zum Beispiel wegen der Inhaltsstoffe Palmöl und Schokolade). Nebst der gesellschaftspolitischen Aktualität verweist Hadrien auf den ästhetischen Gehalt der Serie in Rückbindung mit den multimedialen Plattformmöglichkeiten des Internets und appelliert, dass die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten häufiger Medienproduktionen dieser Art ermöglichen sollten. Die Zuschauer*innenbewertung auf IMDB untermauert den Erfolg der Serie, über einzelne Internet-Blogbeiträge hinaus, mit 7,8 Sternen.

 

Abschließende Gedanken

Die Serie ist von schlagender Aktualität hinsichtlich gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Herausforderungen und antizipiert eine kommende Klimakrise, die im Erscheinungsjahr 2019 im gesellschaftspolitischen Diskurs extrem präsent gewesen ist. So artikuliert The Collapse Kritik an einer konsum- und wachstumsorientierten Gesellschaft und diagnostiziert ihren Institutionen Ignoranz angesichts der Warnungen von Fachwissenschaftler*innen. 

 

Angaben:

Staffeln: 1
Episoden: 8
Episodenlänger 15-25 Minuten
Erscheinungsrhythmus: Wöchentlich vom 11. November bis 02. Dezember 2019
Zuerst gezeigt auf: Canal Plus Creation Declaree
Idee: Guillaume Desjardnis, Jeremy Bernard, Bastien Ughetto
Regie: Guillaume Desjardnis, Jeremy Bernard, Bastien Ughetto
Produktion: Les Parasites
Jahr: 2019
Genre: Katastrophe, Drama, Action,
Abrufbar unter: https://www.joyn.de/serien/the-collapse (Letzter Zugriff: 10.06.2021)


Sonstige Quellen:

Blogeintrag in EL ESPOILER, Benítez, Besay García: Crítica de 'El colapso' (2020) – Miniserie Filmin  URL:https://www.elespoiler.com/2020/07/critica-el-colapso-miniserie-filmin.html (Letzter Zugriff: 10.06.2021).

Blogeintrag Le Blog Du Cinéma, Hadrien: L´EFFONDREMENT,la bonne surprise de Canal + Critique URL: https://www.leblogducinema.com/critique-serie/leffondrement-la-bonne-surprise-de-canal-critique-877850/ (Letzter Zugriff: 10.06.2021).

 

Wissenschaftliche Quellen:

Chung, Jihae (2016): Zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen. Das Natur-Erhabene und das Filmisch-Erhabene im Katastrophenfilm am Beispiel von 2012. In: Heinz-Peter Preußer (Hg.) Anschauen und Vorstellen Gelenkte Imagination im Kino (=Schriftreihe zur Textualität des Films, Bd. 4). Marburg. 117-134.

Großmann, Stephanie (2012): Naturkatastrophen im Film. „Wer überlebt und wer stirbt, das ist niemals gerecht?“. In: Simon Frisch/Tim Raupach (Hg.) Revisionen – Relektüren – Perspektiven (=Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium, Bd. 23). Marburg. 97-112.


(Martin Platte, 08.07.2021)