eva.stories
von Martha-Lotta Körber //
Eva.Stories basiert auf dem Tagebuch der
ungarischen Jüdin Éva Heyman, das diese kurz vor ihrer Deportation im Juni 1944
einem Nachbarn überließ und das heute als Zeitzeugenbericht erhalten und
publiziert ist (, wenngleich die Echtheit des Artefakts mitunter angezweifelt wurde). Die zunächst auf Instagram veröffentlichte Webserie
transformiert das Format ,Tagebuch‘ nun in ,Stories‘. Dabei wird nahegelegt,
dass die Geschichte so hätte überliefert sein können, wenn das junge Mädchen
ein Smartphone besessen hätte („What If A Girl In The Holocaust Had
Instagram?“). Éva feiert ihren 13. Geburtstag im Ungarn des Jahres 1944.
Weite Teile Europas sind bereits durch die Nazis besetzt, und an diesem Tag –
dem 15. Februar – hält der für sie vormals abstrakt erscheinende Krieg auch in
ihr Leben Einzug. Sie verbringt den Tag zunächst Eis essend, Schallplatten
hörend und tanzend mit ihrer besten Freundin Annie und ihrer Cousine Martha,
bevor letztere unvermittelt von einem Soldaten abgeholt und anschließend nach
Polen gebracht wird. Gemeinsam mit ihrer Familie hofft Éva in den folgenden
Wochen darauf, dass die Rote Armee eintreffen wird, bevor die Nazis Ungarn
endgültig einnehmen. Am 19. März wird sie dann aber gemeinsam mit ihrer Klasse
nach Hause geschickt und platzt auf der Straße in einen Nazi-Aufmarsch. Éva – die davon träumt, einmal Reporterin zu werden – beschließt, ab
jetzt alles in Instagram-Stories zu dokumentieren.
Ästhetik und Themen
Gesprochen wird in den Stories auf Englisch mit Akzent,
begleitet von hebräischen Untertiteln. Im 9:16-Format und aus einer
Handykamera-Perspektive filmt die Protagonistin Éva scheinbar das Geschehen um
die Besetzung ihrer Heimatstadt Nagyvárad durch die Nazis, ihren anschließenden
Aufenthalt – eingepfercht in einem Zimmer – im polnischen Ghetto und
schlussendlich ihre Deportation im Zug in das Konzentrationslager
Auschwitz-Birkenau.
Abbildungen: Screenshots aus Eva.Stories. |
Angelehnt an die Erzählform einer hybriden Instagram-Story
erzeugt Eva.Stories einen Eindruck
von Intimität, Unbefangenheit und Spontaneität. Neben den vermeintlich
dokumentierten Kriegsgeschehnissen, thematisiert die Protagonistin nämlich auch
tagebuchtypisch ihre private Gefühlswelt, inklusive verknallt-Seins in ihren
Mitschüler Pistu, und verwendet dabei vielfach in die Story integrierte Emojis,
Textbausteine und Sticker. Inszenierung, Ausstattung und Set-Design sind – trotz des der
medialen Rahmung eingeschriebenen Effekts von Unprofessionalität – mitunter
sehr aufwendig und erinnern an Spielfilmsequenzen. Insbesondere Szenen mit
nachgestellten historischen Settings, wie dem von Éva festgehaltenen Einmarsch
der Wehrmacht, fallen im Kontext der medialen Form der Webserie als
vergleichsweise üppig ausstaffiert auf. Mit zunehmender Ernsthaftigkeit der Kriegsentwicklungen im
Handlungsverlauf ist die Serie darum bemüht, ihrer Hauptfigur Größe und Agency zu verleihen, indem Éva im Gestus
einer Reportage – der verzweifelten Umstände zum Trotz – das geschehene Unrecht
immerhin durch das Mittel der Smartphone-Kamera bezeugen und einer
Öffentlichkeit zugänglich machen kann. Die vermeintlich journalistische
Dokumentation der historischen Verbrechen ist zwar in ihrer Ahistorizität
tragisch, hat daneben aber einen Effekt rückwirkenden Empowerments. Dieser wird
auch in der Werbekampagne der Webserie transportiert: Hier hält eine ausgestreckte
Hand durch einen Stacheldrahtzaun hindurch ein Smartphone, vor einem Bildgrund,
dessen Farbschema an Instagram und Snapchat angelehnt ist (siehe Abbildung).
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Abbildung: Screenshot aus Eva.Stories (Werbeplakat). |
Produktion und Rezeption
Die israelische Webserie wurde rechtzeitig zum
Holocaust-Gedenktag Yom Hashoah am 1. Mai 2019 veröffentlicht und insbesondere
in Israel intensiv beworben (etwa mit einer großflächigen Plakatkampagne in Tel Aviv).
Sogar Benjamin Netanyahu kündigte sie eigens über seinen reichweitenstarken Twitter-Account an. Das Projekt
iniziiert, finanziert und Regie geführt haben Mati und Maya Kochavi. Mati
Kochavi – ein High-Tech-Unternehmer – erklärte seine Motivation im israelischen
Fernsehen, indem er für eine Anpassung von Gedenkkultur an heutige
internetbasierte Formate plädierte: „Im digitalen Zeitalter, in dem die Aufmerksamkeitsspanne
kurz und das Bedürfnis nach Nervenkitzel hoch ist, ist es extremwichtig, neue Modelle der Zeugenaussagen und Erinnerung zu finden – auch angesichts
der sinkenden Zahl von Holocaust-Überlebenden.“ Damit knüpft er an geschichtsdidaktische
Positionen der vergangenen Jahre an, die darum bemüht sind, mit einer neuen
Form von Gedenkkultur, junge Menschen ,dort abzuholen, wo sie sind‘ – in
Sozialen Netzwerken. Die historische Bildung müsse sich demnach nicht nur einer
neuen internetbasierten Kommunikationsinfrastruktur bedienen, sondern sich auch
den Ästhetiken und Sehgewohnheiten in Sozialen Medien anpassen. Im
deutschsprachigen Raum versuchte dies im Bereich der Webserienlandschaft
zuletzt die ebenfalls am Format der Instagram-Story orientierte und ebenso
medienhistorisch unmögliche ARD-Produktion
Throwback 89,
ein fiktives Instagram- Videotagebuch einer jungen Schülerin in der DDR.
Demgegenüber äußerten sich insbesondere in Israel und in
Deutschland kritische Stimmen, die mitunter an eine weit in das 20. Jahrhundert
zurückreichende Diskussion anknüpften. Fragen nach der Angemessenheit einer
audiovisuellen Vermittlung der Shoa stellten sich in der (deutschen) Diskussion
in Folge filmischer Adaptionen des Themas, spätestens seit der TV-Ausstrahlung von Holocaust – Die Geschichte
der Familie Weiss 1979, immer wieder (vgl. u. A. Schulz 2013).
Das Entstehen erinnerungskultureller Produktionen in Sozialen Medien hat nun
aber im vergangenen Jahrzehnt – vor dem Hintergrund der aussterbenden
Zeitzeugengeneration, auf die auch Mati Kochavi verweist – verstärkt Sorgen um
eine Trivialisierung des Holocausts auf den Plan gerufen, u. a. verbunden mit Bedenken hinsichtlich der historisch vergleichsweise neuen
(redaktionellen) Unkontrollierbarkeit des ,Diskursraums Internet‘ (vgl. Frieden
2015) – und tatsächlich werden unterhalb von Eva.Stories auf YouTube auch zynische Witze gemacht, die vielfach
die Szene der aufmarschierenden deutschen Wehrmacht mit Thin Lizzy’s „Boy’s Are Back In Town“ kommentieren.
Neben dem häufig erhobenen ,Unterhaltungs-Verdacht‘ gegenüber
audiovisuellen Repräsentationen der Shoa, löste insbesondere die Instagram
entlehnte Erzählform von Eva.Stories Befremden
aus. So werde eine historisch verbürgte Zeitzeugin – Éva Heyman – in eine
gegenwärtige Selbstdarstellungskultur transferiert, die sich grundsätzlich mit
dem Vorwurf der Oberflächlichkeit und Banalität konfrontiert sieht. Notwendigerweise dränge sich damit die Frage auf, ob „sich
die Geschichte des Holocaust überhaupt in den neuesten Medien […] angemessen
repräsentieren und rezipieren lässt“ (Frieden 2015, 3) oder nicht vielmehr im stream of counsciousness Sozialer Medien
in unangemessener Art und Weise normalisiert werde. Ungeachtet dieser Bedenken war Eva.Stories mit über 120 Mio. Aufrufen in den ersten 24 Stunden
nach Veröffentlichung auf Instagram enorm erfolgreich (vgl.
Tagesthemen vom 02.05.2019).
Angaben
Staffeln: -
Episoden/"permanent storys": ca. 28/31
Episodenlänge: durchschnittlich 84 Sekunden
Episodenlänge: durchschnittlich 84 Sekunden
Erscheinungsrhythmus: in gebündelter Form stündlich am Jom haSchoa (1. Mai 2019)
Zuerst gezeigt auf: Instagram
Zuerst gezeigt auf: Instagram
Regie: Mati Kochavi, Maya Kochavi
Produktion: Neta Karni, Hadar Albaranes, Liat Lehavi
Autor*innen: Maya Kochavi, Mati Kochavi
Autor*innen: Maya Kochavi, Mati Kochavi
Jahr: 2019
Abrufbar unter:
Instagram (im Original-Story-Format): https://www.instagram.com/eva.stories/?hl=de (Zugriff: 09.07.2020).
YouTube (in einem Video): https://www.youtube.com/watch?v=lWmRpz9edVg (Zugriff: 09.07.2020).
Forschungsliteratur
Frieden, Kirstin (2015): Freundschaft mit einem
Holocaustopfer – Möglichkeiten und Grenzen der Erinnerungskultur in den neusten
Medien und am Beispiel Facebook. In: Mediale
Kontrolle unter Beobachtung, Jg. 4, Nr. 1, S. 1–11.
Schulz, Sandra (2007): Film und Fernsehen als Medien der
gesellschaftlichen Vergegenwärtigung des Holocaust. Die deutsche
Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust im Jahre 1979. In: Historical Social Research / Historische
Sozialforschung (HSR), 32, Nr. 1, S. 189-248.
Sonstige Quellen
„Eva Stories“. Holocaust-Gedenken auf
Instagram (Beitrag
im DLF Kultur), https://www.deutschlandfunk.de/eva-stories-holocaust-gedenken-auf- instagram.1773.de.html?dram:article_id=447652 (Zugriff:
09.07.2020).
Holocaust-Gedenken: „Eva Stories“ auf
Instagram (Beitrag
von Mike Lingenfelser in den Tagesthemen,
ARD), https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video- 534169.html (Zugriff: 09.07.2020).
A Holocaust Story for the Social
Media Generation (Artikel
von Isabel Kershner in The New York Times),
https://www.nytimes.com/2019/04/30/world/middleeast/eva- heyman-instagram-holocaust.html (Zugriff:
09.07.2020).
„Was, wenn ein Mädchen
im Holocaust Instagram gehabt hätte?“ (Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung/FAZ),
https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/eva-stories-instagram-serie-ueber- den-holocaust-16167389.html (Zugriff:
09.07.2020).
(Martha-Lotta Körber, 17.08.2020)