Stichtag
von Sina Göing //
Die Webserie Stichtag (D 2020–), eine
Eigenproduktion der Streaming-Plattform Joyn, erzählt von zwei befreundeten
Jugendcliquen, die in einer Münchner Hochhaussiedlung leben. Die Schulferien
neigen sich langsam dem Ende zu, und unter den etwa 15-jährigen Mädchen und
Jungen herrscht große Langeweile. Um der Trostlosigkeit der letzten Ferientage
zu entgehen, schließen Aleks, Yannick, Anton und Nino, die alle noch keinen
Geschlechtsverkehr hatten, eine Wette ab: Wer bis zum ersten Schultag – dem
titelgebenden ‚Stichtag‘ – noch Jungfrau ist, muss nackt über den Schulhof
laufen. Was als Schnapsidee beginnt, entwickelt sich schon bald zu einem
erbitterten Konkurrenzkampf zwischen den Jungen, der sie nicht nur ihre
Freundschaft, sondern auch sich selbst infrage stellen lässt.
Abbildung: Screenshot aus Stichtag. |
Thematische Struktur und dargestellter
Raum
Aufgrund des überwiegend jugendlichen
Figurenensembles und der behandelten Thematiken – das erste Mal Verliebtsein,
das erste Mal Sex, der erste Drogenrausch – erinnert Stichtag auf den
ersten Blick an die norwegische Webserie Skam (NOR 2015–2017) und ihre internationalen
Adaptionen, wenngleich die Joyn-Produktion in einem thematisch deutlich
raueren Gewand daherkommt. Dieser Eindruck lässt sich vor allem darauf
zurückführen, dass in Stichtag ein Setting erzählt wird, das weniger der
norwegischen Erfolgsproduktion oder ihrer deutschen Version Druck (D 2018–), sondern vielmehr Serien wie 4 Blocks
(D 2017–2019) und Skylines (D 2019) entlehnt zu sein scheint. Anstelle
der Altbauwohnung im angesagten Szeneviertel und des Einfamilienhauses im
schmucken Vorort dient eine Plattenbausiedlung im Münchner Stadtbezirk
Feldmoching-Hasenbergl als Hauptschauplatz. In der Freizeit hängt man auf
Parkhausdecks, im Fitnessstudio oder vorm örtlichen Boxclub ab; gelegentlich
kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und den Schlägertypen der
Siedlung. Die ‚Härte der Straße‘, wie sie die von Armut, Verwahrlosung, Kriminalität
und Perspektivlosigkeit gezeichnete Umgebung suggeriert, spiegelt sich ebenfalls
in der Sprechweise der Figuren wider. So strotzen die Unterhaltungen von Aleks,
Yannick, Anton und Nino vor vulgären Ausdrücken, sexuellen Anspielungen und
homophoben Bemerkungen. Witze über die Penislängen der Anderen, Beleidigungen
wie „Spast“, „Schwuchtel“ und „Pussy“ sowie scherzhafte Gewaltandrohungen
gehören zum täglichen Umgangston innerhalb der Clique. Nicht
nur verbal bemüht man sich um ein brutales Auftreten, auch kickt Aleks in einer
Szene einen Mercedes-Stern von der Motorhaube oder trainiert Yannick an anderer
Stelle exzessiv seinen Oberkörper. Obwohl sich Emi, Samira, Laura und Alina
etwas gemäßigter geben als ihre männlichen Freunde, strahlen auch sie
Selbstbewusstsein und Abgebrühtheit aus, wenn sie sich gegenseitig als „Bitch“
oder „Fotze“ bezeichnen, Kondome im Supermarkt mitgehen lassen oder mit ihren sexuellen
Erfahrungen prahlen. Als Emi zugibt, nichts mit dem Begriff Rainbowing –
das Verteilen von Blowjobs nach Auftragen eines bunten Lippenstifts – anfangen
zu können, wird sie dafür von Samira nur spöttisch beäugt. Dass Stichtag auch
visuell kein Blatt vor den Mund nimmt, wird nicht zuletzt anhand der Anfangsszene
der Pilotfolge deutlich, in der Emi und Aleks abwechselnd beim Masturbieren
gezeigt werden.
Abbildung: Screenshot aus Stichtag. |
Durch das Versprechen, „[m]it der neuen
Eigenproduktion Stichtag […] sämtliche Tabus [zu brechen]“ (2020),
verweist Joyn bereits im Beschreibungstext auf die schonungslose Offenheit,
mit der sich die Webserie der Coming-of-Age-Thematik annähert.
Als Vorbild diente unter anderem die britische Serie Skins (UK
2007–2013), nach dessen Gegenstück man auf dem deutschen Serienmarkt – laut
Aussage des Drehbuchautors und Regisseurs Christof Pilsl – bisher vergeblich
suchen musste: „Wir hatten das Gefühl, dass es in Deutschland bisher keine
Jugendserie gibt, in der die entsprechende Sprache und Themen wie Sexualität,
Party, Drogen und Druck in Gänze ernst genommen werden“ (Steinabauer 2020, 25).
Stichtag selbst beschreibt Pilsl als „dreckig[ ]“, „ehrlich[ ]“ und
„echt[ ]“ (Steinabauer 2020, 25). Bei all der Kompromisslosigkeit und
Innovation, die dem Joyn-Original vor und nach Veröffentlichung
attestiert wurde, verwundert es dann aber doch, dass ausgerechnet die
Entjungferungswette, die vor allem aus ekelhumorigen Teenie-Komödien bekannt
sein dürfte, als folgenübergreifender Haupthandlungsstrang etabliert wird. In
ihrer Rezension betitelt Teresa Kaiser Stichtag daher zunächst als
„bayerisches ‚American Pie‘“, verweist jedoch gleichzeitig auf die „tragische[n]
Elemente“ (Kaiser 2020), die die Joyn-Produktion ihrer Meinung nach
enthalte. Kaiser spielt damit auf den Umstand an, dass die Webserie trotz
platter Grundprämisse in ihrem Verlauf eine Ernsthaftigkeit und Dramatik
entwickelt, die sie von der Albernheit US-amerikanischer Highschool-Filme
Abstand nehmen und zu der von Pilsl beschriebenen Intention der Macher*innen zurückkehren
lässt.
Figuration und narrative Struktur
Mit fortschreitender Handlung führt die zu Beginn
noch harmlos wirkende Wette der Jungen zu immer mehr Problemen, die die Beteiligten
dazu zwingen, sich mit ihrer eigenen Identität auseinanderzusetzen. Dabei wird
vor allem der Einfluss gesellschaftlicher Rollenerwartungen kritisch
hinterfragt und am Beispiel der jugendlichen Charaktere aufgezeigt, welchen
Druck stereotype Geschlechterbilder auf das heranwachsende Individuum ausüben. So
stoßen Aleks, Yannick, Anton und Nino schon bald an die Grenzen ihres
selbstauferlegten machohaften und aggressiven Verhaltens, im Zuge dessen sie
sich mit der Frage konfrontiert sehen, was für eine ‚Art Mann‘ bzw. wer sie
überhaupt sein wollen.
Neben der Wette fungiert vor allem die enge
Beziehung zur befreundeten Mädchenclique als Katalysator für die plötzliche
Identitätskrise der vier Freunde, da sie Widersprüche zum Vorschein bringt, die
das männliche Selbst- und Idealbild zunehmend bedrohen. Entgegen der eigenen
vermeintlichen emotionalen Härte, entwickelt jeder der Jungen im weiteren
Handlungsverlauf romantische Gefühle für eines der Mädchen, wodurch ihnen nicht
nur ihr heimlicher Wunsch nach Liebe, Geborgenheit, Zuneigung und Stabilität,
sondern auch die Fragilität ihrer Männlichkeit vor Augen geführt wird. Aleks’
‚Fremdknutschen‘ mit Samira, Yannicks Einnahme von Potenzpillen gegen seine
Erektionsschwierigkeiten, Antons Prügelei mit Lauras Freund, Ninos Bordellbesuch
sowie das versteckte Mitfilmen des Geschlechtsverkehrs und das nachträgliche
Verschicken der Aufnahmen über WhatsApp können allesamt als Versuche der Jungen
gewertet werden, der wachsenden Verunsicherung entgegenzuwirken. Während Aleks,
Anton und Nino langsam lernen, ihre ‚weiche‘ und scheinbar schwache Seite
zuzulassen und zu akzeptieren, kämpft Yannick immer verbissener gegen den
empfundenen Identitätsverlust an. Das Fehlen erwachsener Vorbilder, das sich
wie ein roter Faden durch die gesamte Serie zieht, kommt hierbei besonders zum
Tragen. So kann der Umstand, dass Yannicks Vater seinen eigenen Sohn als
„Schwuchtel“ beschimpft und ihn mit einem Gürtel verprügelt, Yannicks spätere –
und teils fatale – Handlungsentscheidungen zwar nicht entschuldigen, aber diese
möglicherweise erklären. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass
Yannicks Vater im Rollstuhl sitzt, was erneut Fragen nach toxischen und ‚bedrohten‘
Männlichkeitskonzepten aufwirft (siehe hierzu auch Urwin 2017).
Abbildung: Screenshot aus Stichtag. |
Für die narrative Struktur der Webserie ist die
Berücksichtigung und Integration der weiblichen Erzählperspektive von
essentieller Bedeutung. Da die Geschehnisse ebenso häufig aus der Sicht von
Emi, Samira, Laura und Alina geschildert werden, nehmen die Mädchen nicht nur
einen den männlichen Charakteren ebenbürtigen Stellenwert ein, sondern wachsen
über ihre Funktion als „angebetete oder nervige Nebenfiguren“ (von Blazekovic
2020) hinaus. Durch die Gegenüberstellung des weiblichen und männlichen Handlungsraums
treten sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen den Jugendlichen
zutage, in Folge dessen die Besonderheiten der weiblichen Identitätsbildung
hervorgehoben und mitunter feministische Themen aufgegriffen werden. Es wird
deutlich, dass auch die jungen Mädchen stark mit sich, ihrer Sexualität und dem
eigenen Körper hadern. Wie sehr das weibliche Selbstwertgefühl dabei an
männliche Bestätigung und Wertschätzung geknüpft ist, zeigt sich mit Blick auf
Alina und Samira. Anders als ihre blonde Freundin, die sich mit ihrem
augenscheinlich perfekten Äußeren vor – männlicher – Aufmerksamkeit kaum retten
kann, leidet Alina unter dem mangelnden Interesse gleichaltriger Jungen. Hinzu kommt,
dass sie durch ihr strenges Elternhaus dazu angehalten ist, auf freizügige
Kleidung, Partys, Alkohol und Liebesbeziehungen zu verzichten, was durch die
regelmäßigen Kontrollen und Einschüchterungsversuche ihrer älteren Brüder
sichergestellt werden soll. Dies macht es Alina umso schwerer, mit Jungen
Kontakt aufzunehmen, und verstärkt ihr Unwohlsein.
Dass auch eine scheinbar körperliche Makellosigkeit
nicht vor Enttäuschung, Zurückweisung und Selbstzweifeln schützt, wird am
Beispiel von Samira erkennbar, die trotz – oder gerade wegen – ihrer Schönheit
zum Spielball männlicher Machtspiele und Gewalt wird. Getrieben von dem Wunsch
nach Akzeptanz und Liebe, setzt sie ihre weiblichen Reize bewusst ein, um
andere – vor allem Yannick – von sich zu begeistern. Als Samira gegen
Staffelende Opfer sexueller Nötigung wird, enthält sich die Webserie jedoch
jeglicher Art von Slut Shaming bzw. Victim Blaming. Anstatt Samiras
aufreizendes Auftreten und sexuelle Aktivität für die Tat verantwortlich zu
machen, widersetzt man sich der Täter-Opfer-Umkehr und markiert stattdessen
einmal mehr destruktive Männlichkeitsbilder als Ursache. Besonders
hervorzuheben ist zudem die erneute positive Darstellung weiblicher Sexualität
und Lust, mit der sich Stichtag einem Themenkomplex widmet, der im
öffentlichen Diskurs oftmals gescheut und stigmatisiert wird.
Abbildung: Screenshot aus Stichtag. |
So ganz will Stichtag die tiefgründige
Milieustudie, wie sie beispielsweise in filmischen Vorgängern wie Kids
(USA 1995), Thirteen (USA/UK 2003) und Knallhart (D 2006) zu
beobachten ist, dennoch nicht gelingen. Viele Konflikte und Handlungsstränge –
darunter Emis Drogensucht, der Einfluss Sozialer Medien oder Alinas Aufbegehren
gegen ihr familiäres Umfeld – werden lediglich angedeutet. Gleichzeitig ist es
jedoch gerade dieses unausgeschöpfte Potenzial, dass das Interesse an einer
möglichen Fortsetzung von Stichtag weckt. Des Weiteren muss man der
Webserie zugutehalten, dass sie durch das Thematisieren, Problematisieren und
Kritisieren von geschlechtstypischen Rollenbildern und Machthierarchien
wichtige Diskussionen um einvernehmlichen Sex und Konsens, Rape Culture
sowie Emanzipation in das Bewusstsein der vermutlich überwiegend minderjährigen
Zielgruppe rückt.
Produktion und Distribution
Stichtag wurde
im Auftrag des Streaming-Anbieters Joyn von der Produktionsfirma Smac
Media produziert. Vom FilmFernsehFonds Bayern (FFF Bayern)
erhielt die Webserie darüber hinaus eine Förderung in Höhe von 50.000 Euro. Seit
dem 12. November 2020 ist die erste Staffel des Joyn-Originals kostenlos
auf der Streaming-Plattform zu sehen. Vom 5. bis 22. November 2020 liefen die
ersten beiden Episoden zudem im Wettbewerbsprogramm des Seriencamp Festivals
und konnten daher bereits vor ihrer Premiere auf Joyn im digitalen,
registrierungspflichtigen Watchroom der Veranstaltung abgerufen werden. Im
Rahmen des Serienfestivals gewann Stichtag darüber hinaus einen der fünf
Audience Choice Awards.
Der Dreh zu Stichtag umfasste insgesamt 21
Tage und fand zwischen Mai und Juni 2020 in München statt. Im Hinblick auf das
jugendliche Schauspielensemble der Webserie, das „in einem aufwändigen
Streetcasting zusammengestellt [wurde]“ (Niemeier 2020), verpflichteten die
Macher*innen vor allem neue Gesichter. Vereinzelt finden sich jedoch auch
bekanntere Namen in der Besetzungsliste. Während die Influencerin Melina
Celine, deren Kanal auf dem Videoportal TikTok 2,2 Millionen Follower*innen zählt (Stand: 17.02.2021),
die Rolle der Samira verkörpert, sind die Rapper*innen Eunique und Fatoni in
Cameo-Auftritten zu sehen. Letzteres stellt eine weitere Parallele zu den
Serien 4 Blocks und Skylines dar, in denen mehrere
Darsteller*innen ebenfalls der deutschen Rap-Szene angehören.
Bei der Suche nach einem geeigneten Schauplatz setzte
man – wie schon beim Casting – auf Authentizität und Neuartigkeit. Die Wahl
fiel schließlich auf eine Hochhaussiedlung in einem Randbezirk der Stadt, der
stellvertretend für ein München steht, das in Film und Fernsehen bisher größtenteils
ausgespart wurde, wie Christof Pilsl gegenüber dem Branchenmagazin FilmNewsBayern
anmerkt: „Es war uns wichtig, die Stadt mal ein stückweit anders zu erzählen.
Ein Viertel wie das Hasenbergl kommt in unserer Welt niemals vor, ist aber
trotzdem da. In Berlin sind solche Brennpunktviertel in die Erzählung der Stadt
eingeschrieben. In München redet niemand über Neuperlach oder das Hasenbergl“
(Steinabauer 2020, 24).
Ob und wann es eine zweite Staffel von Stichtag
geben wird, steht zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht fest (Stand: 17.02.2021).
Angaben
Episoden: 10
Episodenlänge: 15 Min.
Zuerst gezeigt auf: Seriencamp Watchroom (Episoden 1 und 2), Joyn
Regie: Christof Pilsl
Produktion: Smac Media
Autor*innen: Jonas Brand, Christof Pilsl, Evi Prince
Jahr: 2020–
Genre: Teen-Pic, Coming of Age
Abrufbar unter:
Joyn: https://www.joyn.de/serien/stichtag (Zugriff:
17.02.2021).
Forschungsliteratur
Urwin, Jack (2017): Boys
Don’t Cry: Identität, Gefühl und Männlichkeit. Hamburg: Edition Nautilus.
Sonstige Quellen
Joyn (2020): Eine Wette mit
Folgen: Wer muss nackt über den Schulhof rennen? [Beschreibungstext zu Stichtag].
URL: https://www.joyn.de/serien/stichtag
(Zugriff: 17.02.2021).
Kaiser, Teresa (2020): Ein
bayerisches „American Pie“ von Autoren aus der Region. PNP.de, URL: https://www.pnp.de/lokales/landkreis-deggendorf/deggendorf/Ein-bayerisches-American-Pie-von-Autoren-aus-der-Region-3837972.html
(Zugriff: 17.02.2021).
Niemeier, Timo (2020):
„Stichtag“: Neue Joyn-Serie startet im November. DWDL.de, URL: https://www.dwdl.de/nachrichten/79631/stichtag_neue_joynserie_startet_im_november/?utm_source=&utm_medium=&utm_campaign=&utm_term=
(Zugriff: 17.02.2021).
Steinabauer, Anna (2020): Die
Wette gilt. FilmNewsBayern. Das
Medienmagazin des FFF Bayern, 4/2020, S. 24–25, URL: https://www.fff-bayern.de/fileadmin/user_upload/Film_News_Bayern/PDF_web_Film_News_Bayern/07_FFF_FN_04-2020_web.pdf
(Zugriff: 17.02.2021).
von Blazekovic, Aurelie
(2020): Hauptsache, cool sein. SZ.de, URL: https://www.sueddeutsche.de/medien/stichtag-joyn-rezension-1.5119444
(Zugriff: 17.02.2021).
(Sina
Göing, 22.02.2021)