La Théorie du Y
von Nadine Simon //
Die belgische Webserie La Théorie du Y thematisiert das Erkunden der eigenen Sexualität und stellt dabei vor allem Bisexualität und Homosexualität in den Vordergrund. Die auf einem gleichnamigen Theaterstück basierende Webserie wurde auf dem YouTube-Kanal des RTBF, eines öffentlichen Rundfunkunternehmen Belgiens, im Frühjahr 2017 veröffentlicht; parallel dazu sind die Videos der jeweils zehn Episoden umfassenden zwei Staffeln (Pilotfolge ausgenommen) in die Website der Serie eingebettet.
Thematische und narrative Struktur
Die Folgen sind jeweils mit einem individuellen Titel gekennzeichnet, welcher bereits Aufschluss über die Handlung bzw. den Fokus einer einzelnen Episode gibt. So wird in der Folge mit dem Namen „Claire“ die Figur Claire eingeführt, in „Une vrai lesbienne“ („Eine echte Lesbe“) setzt sich die Figur Anna mit der Frage auseinander, was es bedeutet lesbisch oder bisexuell zu sein und welchem Entscheidungsdruck sie sich ausgesetzt sieht. In den sechs- bis zehnminütigen Folgen begleiten die Zuschauer*innen insbesondere die Protagonistin Anna, eine junge Brüsselerin, die sich in einer unglücklichen Beziehung mit ihrem langjährigen Freund Matteo befindet. Auf dem Weg zu einem Abendessen mit seinen Eltern streiten sich die beiden, woraufhin Anna aus dem Auto steigt und sich in eine Bar flüchtet. Dieser Ausbruch aus den Mustern ihres Alltags stellt gleichzeitig das Motiv für die darauffolgende Handlung dar. In der Bar lernt sie den homosexuellen Barkeeper Malik kennen, welcher später ebenfalls eine zentrale Figur der Serie wird und insbesondere in der zweiten Staffel, durch das Intro markiert, als Protagonist eingeführt wird.
Anna trifft jedoch nicht nur Malik, sondern auch die ebenfalls homosexuelle Claire; die beiden kommen sich näher. In den darauffolgenden Episoden der ersten Staffel reflektiert Anna ihre heteronormative Beziehung mit Matteo, ihre sich entfaltende Affäre mit Claire sowie ihre Vergangenheit. Durch Analepsen, welche immer wieder die Jetzt-Zeit unterbrechen, wird deutlich, dass Anna sich bereits während ihrer Pubertät auch zu Frauen hingezogen fühlte: Sie und ihre damalige beste Freundin hegten romantische Gefühle füreinander. Sie hielten die Beziehung jedoch geheim, denn Anna traute sich aufgrund des gesellschaftlichen Drucks nicht, ihre gleichgeschlechtliche Beziehung öffentlich zu machen. Sowohl die Beziehung als auch die Freundschaft endeten letztlich infolge von Annas Scham, sie führte ab diesem Zeitpunkt nur noch heteronormative Beziehungen. Anna beginnt nun aber, sich mehr und mehr von Matteo zu distanzieren, bis es schließlich zur Trennung kommt. Gleichzeitig wird sie durch ihre neue Partnerin Claire Teil der Homosexuellen-Szene Brüssels; ein besonderer Fokus liegt hier auf der Clubkultur.
Jede Folge stellt einen neuen Konflikt in den Mittelpunkt, wobei sich alle mit Annas Unsicherheit in Bezug auf die eigene Sexualität in Verbindung bringen lassen. Diese Unsicherheit führt schlussendlich zum Konflikt mit Claire, woraufhin auch diese Beziehung zerbricht. La Théorie du Y widmet sich jedoch nicht ausschließlich Sexualität und Liebesbeziehungen, sondern rückt auch andere Themen von jungen Erwachsenen in den Vordergrund. So wird Annas teils schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern gezeigt, aber auch ihr Job in einer Kunstgalerie und der damit verbundene berufliche Druck spielen eine Rolle.
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Abbildung: Screenshot aus La Théorie du Y (Staffel
1, Episode 11, „La bonne personne“) |
Wie bereits erwähnt stehen in der ersten Staffel auch andere Figuren, wenn auch erstmal nur zu kleinen Anteilen, im Fokus. Das Leben des Barkeepers und Freundes von Anna, Malik, wird in der gleichnamigen Folge abgebildet, es ist ebenso von Unsicherheiten geprägt wie Annas. Auch Annas Freundin Lucie wird zunehmend in die Handlung eingebunden, sie hat mit Problemen des Lebens einer jungen Frau zu kämpfen, wobei insbesondere ihr Liebesleben und die damit verbundenen Schwierigkeiten in den Mittelpunkt gerückt werden. Die erste Staffel endet mit dem Abreisen Annas und Maliks nach Berlin, wo Malik seinen Freund Sam besuchen möchte und beide etwas Abstand von der Heimat gewinnen wollen – eine Rückreise haben sie nicht geplant.
Die zweite Staffel spielt wieder in Brüssel,
nachdem in einer kurzen Zeitraffung Annas Erlebnisse in Berlin gezeigt wurden.
Auch wenn diese nicht ausführlich thematisiert werden, sind sie doch ein
Knackpunkt in Annas persönlicher Entwicklung. So arbeitet sie nach ihrer Rückkehr
im Immobilienbüro ihres Vaters und ist sich ihrer Bisexualität sehr sicher – in
Berlin hatte sie viele intime Erlebnisse mit Frauen. Zurück in Brüssel holen
sie aber ihre inneren Konflikte ein: Sie fühlt sich zu ihrem (männlichen)
Arbeitskollegen hingezogen, hat aber Angst, dass ihre homosexuellen Freundinnen
sie weniger schätzen, wenn sie sich in einer heterosexuellen Beziehung
befindet. Ihre Jugenderinnerung, die Angst, vor dem sozialen Umfeld zu den
eigenen Gefühlen zu stehen, realisiert sich nun also erneut in umgedrehter
Konstellation. Wichtigster Schauplatz
der zweiten Staffel ist das Le Boudoir, eine Bar für queere Frauen, welcher
jedoch das Aus droht, da die Immobilie ausgerechnet durch Annas Arbeitgeber
weiterverkauft werden soll. Anna wird jedoch mehr und mehr Teil des Kreises
rund um die Bar, sie engagiert sich zunehmend
für den Erhalt ebendieser. Auch
die Darstellung von
Maliks Leben nimmt jetzt deutlich mehr Raum ein als noch in der ersten Staffel.
So wird vor allem sein Zusammenleben mit seinem konservativen Vater thematisiert
sowie seine komplizierte Beziehung zu Sam, der ebenfalls aus Berlin zurückgekehrt
ist.
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Abbildung: Screenshot aus La
Théorie du Y (Staffel 2, Episode 8, „Vernissage“) |
Genre
La Théorie du Y wird unter anderem auf IMDb als „Romance“
bezeichnet, jedoch greift diese einfache Kategorisierung zu kurz. So thematisiert die Serie
zwar die Liebesbeziehungen der Protagonistin, jedoch stellt sie hierbei vor
allem Queerness in den Vordergrund. Die Protagonist*innen der Serie sind
zwischen 20 und 30 Jahre alt, womit sich die Serie auch als Twenpic einordnen lässt.
Es stehen vor allem Themen im Zentrum, welche das Leben einer jungen Person in
einem urbanen, künstlerischen und eher liberalen Umfeld kennzeichnen, die ihren
Weg noch nicht gefunden hat und somit tauchen immer wieder Unsicherheiten in
Bezug auf Beziehungen, Sexualität oder den Beruf auf. Letztlich geht es wiederholt um (die Freiheit aber auch den Druck zur) ,Selbstverwirklichung‘ in
beruflicher, kreativer und die sexuelle Identität betreffender Hinsicht – ein
Wert, der ganz typischerweise Annas Generation – der Generation Y – zugeschrieben
wird. Auch die Beziehung zu den Eltern spielt hierbei eine wichtige Rolle. In La
Théorie du Y werden durch Analepsen immer wieder Bezüge zur Kindheit bzw.
Jugend hergestellt, und es wird deutlich, wie sich Unsicherheiten, vor allem in
Bezug auf die Sexualität, innerhalb einer heteronormativen – oder zumindest als
solcher empfundenen – Gesellschaft entwickeln können. Auch wenn es sich bei der
vorliegenden Serie aufgrund des Alters und der Lebenssituation der
Protagonistin um keine klassische Coming-of-Age-Story handelt, lassen sich
viele inhaltliche Parallelen zu Serien dieses Genres feststellen, wie
beispielsweise Druck (DE 2018), in welcher ebenfalls Themen wie
Queerness und die Beziehungen zu Eltern verhandelt werden. La Théorie du Y verdeutlicht,
dass Unsicherheiten in
Bezug auf die eigene Sexualität nicht nur Jugendliche beschäftigen, sondern
auch (noch) junge
Erwachsene.
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Abbildung: Screenshot aus La
Théorie du Y (Staffel 1, Episode 2, „Claire“) |
Ästhetik
Die Ästhetik von La Théorie du Y reiht sich in gewisser Hinsicht in den Stil vieler Twenpic- bzw. Coming-of-Age-Serien und -Filmen ein, indem die Perspektivierungen eng an die Protagonist*innen, ihre Wahrnehmung und Emotionalität gebunden werden. So sehen die Zuschauer*innen beispielsweise, was Anna sieht, während sie sich zum ersten Mal in einer Schwulenbar befindet, aber anschließend auch immer ihre Reaktion auf zuvor Gesehenes. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Traumsequenzen: Die Kamera nutzt bestimmte Mittel, um die Erfahrung des Tagtraumes zu intensivieren und für die Rezipient*innen emotional nachvollziehbar zu machen. So gibt es Kameraschwenks, -Risse oder Perspektiven, in denen sie sich bspw. auf Kniehöhe der anderen Figuren befindet und somit eine Übersicht für die Zuschauer*innen erschwert. Die schnellen Kamerabewegungen werden auch auditiv durch entsprechende Geräusche untermalt und sorgen somit für ein Gefühl von emotionalem Stress und Unbehagen, markieren aber gleichzeitig die Fiktionalität der stark subjektivierten Sequenzen. Eine fehlende Übereinstimmung zwischen auditiver und visueller Ebene unterstreichen diesen Effekt, wenn zum Beispiel Monologfetzen zu hören sind, jedoch keine sprechende Figur abgebildet wird. So erlebt Anna in regelmäßiger Wiederkehr solche Tagträume, welche sich jedoch für die Zuschauer*innen erst nach einiger Zeit durch zuvor benannte Marker als solche entpuppen. Besonders hervorzuheben unter den erwähnten Tagträumen sind jene, in denen Anna sich ihrem jüngeren Ich gegenübersieht, da diese Sequenzen weniger deutliche Signale für eine solche panische Eingebung enthalten und stattdessen Annas intensive Reflexion über ihre Jugend und ihren damaligen Umgang mit ihrer Sexualität zeigen. Die Traumsequenzen sind insbesondere interessant, da sie die Figur Anna detaillierter charakterisieren, ihre Schuldgefühle und Reue verdeutlichen. Besonders durch die Tagträume, welche ihr jüngeres Ich enthalten, wird ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung thematisch hervorgehoben und eine Verbindung zur Vergangenheit geschaffen. Die Träume liefern einen Einblick in Annas Innenwelt und erzählen von ihrer inneren Spannung und Zerrissenheit.
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Abbildung: Screenshot aus La Théorie du Y (Staffel 1, Episode 5 „Une vraie lesbienne") |
Mediale Umgebung
Rezeption
Fazit
Episoden: 10 pro Staffel (exkl. Pilotfolge in Staffel 1)
Episodenlänge: 6–10 Minuten
Erscheinungsrhythmus: (innerhalb eines Erscheinungszyklus) zwei Folgen pro Woche
Zuerst gezeigt auf: YouTube bzw. eigene Website
Idee: Caroline Taillet u. Martin Landmeters
Regie: Caroline Taillet u. Martin Landmeters
Produktion: RTBF
Jahr: 2016–
Genre: Twenpic, Coming-of-Age, Drama, Queer
Verfügbar unter:
(Nadine Simon, 17.09.2021)