ichbinsophiescholl

 

von Martha-Lotta Körber und Martin Platte //

ichbinsophiescholl erzählt in rund 400 Videos und Bild-Beiträgen eine an die Plattform-Konventionen von Instagram angepasste Version der letzten zehn Monate im Leben von Sophie Scholl, der wohl bekanntesten Widerständlerin während der Zeit des deutschen Nationalsozialismus. Am 4. Mai 2021 startete die im weitesten Sinne pseudo-authentische Webserie (anlässlich des 100. Geburtstages von Sophie Scholl) und endete mit der Verhaftung in einer Instagram-Story vom 18. Februar 2022, auf die noch einige Posts mit Texttafeln und historischen Fotografien zur Verurteilung und Hinrichtung der Weißen-Rose-Mitglieder folgten. Abgeschlossen wurde die Serie durch einen Abspann mit Credits in einer Story vom 26. Februar 2022. Das großangelegte Webserien-Projekt wurde vom SWR und BR gemeinsam mit den Produktionsstudios Sommerhaus und VICE realisiert.


Handlung und narrative Struktur

Die Webserie umspannt die letzten zehn Monate bzw. 42 Wochen im Leben der Protagonistin Sophie Scholl, die im Rahmen kurzer und i.d.R. täglich auf Instagram veröffentlichter Stories auf einem eigenen Kanal (Ichbinsophiescholl, vormals: @ichbinsophiescholl) erschienen – vermeintlich analog zu den Ereignissen im Leben der realen Sophie Scholl vor 79 Jahren. Jeweils am Ende der Woche wurden die Einzelstories in permanenten Videos unter dem Titel „Meine Woche“ auf dem Kanal verankert, sodass eine Art retrospektive Episodenstruktur inkl. 42 einzelner Folgen mit einer Gesamtlänge von etwa 4 Stunden (genau: 03:54:36) entstanden ist. Die Länge dieser einzelnen ,Episoden‘ variiert zwischen drei und 15 Minuten und beträgt durchschnittlich fünf Minuten, demnach wurden täglich durchschnittlich 43 Sekunden Videomaterial hochgeladen, außerdem einige Fotos und Zeichnungen ,von Sophie‘.

 

 

Screenshot der Beitragsübersicht des Kanals ichbinsophiescholl (Desktop-Ansicht).

 


Diese 42 Wochen bzw. Episoden setzen kurz vor Sophie Scholls 21. Geburtstag ein, mit ihrem Umzug von Ulm nach München im Mai 1942, wo sie studieren und ihren Bruder Hans wiedersehen will. Dieser hat ihr ein Zimmer in der Villa Muth verschafft, dem Haus eines ihm gut bekannten Professors, in dem sie verbotene Literatur vorfindet. In München angekommen wird sie herzlich von Hans' Freundeskreis aufgenommen, jedoch zunächst durch ihren Bruder von seinen politisch-widerständischen Plänen ferngehalten, was sie als ärgerliche Geheimniskrämerei empfindet. Enttäuscht von ihren mit Nazi-Ideologie durchsetzten Uni-Vorlesungen bemüht Sophie sich darum, Zugang zum mysteriösen Zirkel um Hans zu erhalten, was ihr schließlich gelingt.

Die Handlung ist daraufhin – bis zur Verhaftung am 18. Februar 1943 in der letzten Episode – geprägt von Selbstaufnahmen Sophies, die einzelne Situationen ihres Alltags dokumentiert und kommentiert, ihre Gedanken schildert und Gefühle demonstriert. Ihre Sorgen kreisen im Wesentlichen um ihre Freunde und Familie, ihren Freund Fritz, der als Wehrmachtssoldat an der Ostfront stationiert ist sowie ihr Studium und die geheimen Vorhaben der Widerstandsgruppe, bestehend aus ihrem Bruder Hans, ihr selbst, Alexander Schmorell, Christoph Probst, Traute Lafrenz, Willi Graf und Professor Kurt Huber, alias der Weißen Rose.

Historisch belegte Beschreibungen und Ereignisse werden teils konkret, teils vage aufgegriffen, wie in der Korrespondenz der historischen Sophie Scholl nachzuvollziehen ist (vgl. IfZ, 146ff). Dazu gehören ihre ausgeprägte christliche Prägung, ihre bis zu ihrer Ermordung tendenziell zunehmenden Depressionen und Kopfschmerzen, aber auch spezifische Ereignisse wie das Berufsverbot ihres Vaters und ihre Verhaftung am 18. Februar 1943, nachdem sie und Hans Scholl beim Verteilen von Flugblättern in der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität durch den Hausmeister gesehen und verraten worden waren. Nachdem die Protagonistin auch als eine Art Vlog-Produzentin in Erscheinung tritt, wird mit ihrer Verhaftung am 18. Februar 1943 (in einer Story vom 18. Februar 2022) der pseudo-authentische Vlog-Modus gebrochen und zu einer Erzählung via Texttafeln, historischer Fotografien und erklärenden Bildbeschreibungen inkl. Quellenangaben gewechselt.

Insbesondere die israelische Produktion eva.stories (Mati Kochavi/Maya Kochavi, IL 2019) hat ichbinsophiescholl in Herangehensweise und Ästhetik erheblich inspiriert, wie auch die Produzent:innen selbst mitteilten (vgl. u.a. SWR). Wie die Vorgängerprojekte eva.stories oder auch The Anne Frank Video Diary (Hanna van Niekerk, NL 2020), enthält ichbinsophiescholl trotz des Themas keine Drastik und spart ,das Ende‘ aus. Die Redaktion hinter dem Kanal selbst führt in den Kommentarspalten an, dass es „keine explizite Gewaltdarstellung“ habe geben sollen. Im Fall von Sophie Scholl bedeutet dies insbesondere den Verzicht auf eine (wie auch immer geartete) Darstellung ihrer kurzen Gefangenschaft und ihrer Enthauptung am 22. Februar 1943. In Im Rahmen eines „Instagram Live“-Gesprächsformats für die ,Community‘ begründete Sophie-Scholl-Schauspielerin Luna Wedler die Entscheidung auf Nachfrage hin mit der Glaubwürdigkeit des intradiegetischen Filmens: „Sophie muss immer einen Grund haben, um die Kamera einzuschalten […]. Es war, glaube ich, von Anfang an klar, dass sie das nicht aufnehmen würde oder nicht zeigen möchte“ (ebd.). Regisseur Tom Lass ergänzte (etwas widersprüchlich): „Was auch immer dieses fiktionale Gerät ist, in das Sophie Scholl da quasi für uns reinspricht, spätestens, wenn sie in Gefangenschaft in der Gestapo ist, könnte sie das ja nicht mehr heimlich machen und es würde ihr weggenommen werden“ (ebd.). (Tatsächlich jedoch ist die intradiegetische Präsenz dieses „Geräts“ eigentlich nicht derart stringent und in sich schlüssig). Die letzten diegetischen Filmbilder bestehen in Folge dieser Entscheidung aus Sophie Scholls Warten im Büro des Universitäts-Rektors SS-Oberführer Prof. Walther „Rassen“ Wüst; ihre letzte Interaktion mit den Rezipient:innen ist geprägt durch ihr Schweigen und ihren Blick in die Kamera, während ein Ausschnitt aus Joseph Goebbels Rede „zum totalen Krieg“ (vom 18. Februar 1943 in München) über ein Radio im Hintergrund hörbar sowie in Inserts lesbar wird, bevor die Protagonistin abgeführt wird.

 

 

Screenshots aus ichbinsophiescholl; v.l.n.r.: letzte Einstellung der letzten fiktionalisierten Story ,von Sophie‘ vom 18. Februar 2022 (bzw. vermeintlich 18. Februar 1943) mit Goebbels-Rede in Hintergrund und Insert; Screenshots aus den folgenden Instagram-Stories vom 21. und 22. Februar 2022, die den Fortgang der Ereignisse in Texttafeln und Inserts vor historischen Fotografien schildern.

 
 

Kontrafaktizität, Ästhetik und Perspektivierung

Wie YouTube, Snapchat oder TikTok ist auch Instagram entlang von personalisierten „Profilen“ bzw. „Kanälen“ strukturiert, die Kommunikationssituation stellt dabei i.d.R. eine der Selbstpräsentation der Filmenden, im weiteren Sinne in der Tradition des Vlogs dar. So ist auch in ichbinsophiescholl das nahe und halbnahe ,Selfie‘ die prägende Einstellung im Rahmen der konstitutiven Handkamera-Ästhetik. Die Protagonistin Sophie filmt sich am Schreibtisch, im Bett, beim Gehen auf der Straße oder in der Uni, beim gemeinsamen Feiern mit Freunden und auch (aber keinesfalls überwiegend) beim Arbeiten an und Drucken von Flugblättern. Die Kamera ist dabei in der Diegese präsent, ihre Anwesenheit wird bemerkt, aber nie abgelehnt, was deutlich wird, wenn Sophie und ihre Freunde für sie posieren. Gleichsam bleibt das „Gerät“ eine diffuse Instanz und gehört als historisch kontrafaktische Technologie nicht zum Horizont der gezeigten Welt. So wird es z.B. nicht von SA-Männern erkannt und die Protagonistin Sophie (überraschenderweise) auch nie dazu aufgefordert, mit dem Filmen aufzuhören. Vielmehr filmt sie sich und spricht sogar mit Zuschauer:innen, während sie dezidiert sagt, extrem unauffällig agieren zu müssen, z.B. wenn sie in einer riskanten Aktion Druckerpapier aus dem Liegenschaftsamt für die Flugblätter stiehlt.


Screenshots aus ichbinsophiescholl, „Meine Woche“ Nr. 31/Story vom 1. Dezember 2021 (bzw. verm. 1. Dezember 1942).



Die Wirklichkeitskonstruktion in ichbinsophiescholl ist letztlich auf die (vermeintliche) Kommunikation mit unbestimmten Rezipient:innen und deren Bindung zu diesen ausgerichtet, aber dadurch konterkarierend, was eine glaubwürdige Histosphäre anbelangt, also das „filmisch konstruierte Raum-Zeit-Gefüge, das eine lebendige [und abgeschlossene] historische Welt modelliert“ (Greiner 2018, 381). Eine Erklärung, ein Anlass oder eine Motivation für das Filmen bleibt aus. Hier unterscheidet sich die Produktion von eva.stories, wo die Protagonistin äußert, alles, was ihr als ungarischer Jüdin zustoße, in einer Art Bürger:innenjournalismus für die Nachwelt dokumentieren zu wollen.

Die Kamera (die weitgehend wie ein Smartphonekamera verwendet wird und entsprechend wirkt) nimmt in der Webserie keinen Einfluss auf den Ausgang der Geschehnisse, schafft keine öffentliche Aufmerksamkeit, die Sophie, Hans, Alexander und Christoph rettet, weil sie keine Bedeutung auf Ebene der übergeordneten Ereignisse hat. Die Kontrafaktizität ist somit – idealisiert gesprochen – weniger eine thematisch-inhaltliche (wie etwa in Inglourious Basterds [Quentin Tarantino, US 2009]), als eine narrativ-ästhetische. Sie wird zur gestalterischen Prämisse und bringt dabei immer wieder kontrafaktische Momente auf Ebene der Handlung hervorbringt (etwa, wenn Sophie für die Kamera tanzt), zeigt aber jedes Agieren unter der Prämisse eines sich selbst präsentierenden Modus‘ Sozialer Medien. Das filmische ,Umschreiben der Geschichte‘ bleibt aus. Die Form des Vlogs bzw. der „Story“ muss wohl eher als eine geschichtsdidaktisch motivierte aber in ihrer Kontrafaktik inkonsequente verstanden werden, soll die Produktion doch dezidiert eine junge Zielgruppe erreichen, antizipiert deren vermeintliche Sehgewohnheiten und ästhetische Vorlieben, um Distanzempfindungen abzubauen und die Identifizierungsmöglichkeiten mit Sophie – im Sinne des Authentizitätsverständnisses Sozialer Medien – zu maximieren. ichbinsophiescholl versucht hier, wie bereits eva.stories, eine Ebene der Synchronität zum medialen Kontext Instagram und den Rezipient:innen herzustellen, indem die zeitliche Differenz zur Gegenwart in vielerlei Hinsicht möglichst nivelliert wird, wodurch der Eindruck einer in die Vergangenheit verlängerten Gegenwart entsteht. Die Protagonistin wird als möglichst für die Rezipient:innen anschlussfähige junge Frau gezeigt, dabei werden zeitgenössische Bild-Ästhetiken und Selbstthematisierungspraktiken bemüht, indem für Instagram typische Bildaufbauten bedient werden.

 

v.l.n.r.: Screenshot aus einer Story vom 6. Juni 2021; Fotobeitrag vom 22. Juni 2021 und Screenshot aus einem Video vom 28. August 2021.


Dabei drängt sich durchaus die Frage auf, ob sich in einem solch affirmativen Rahmen überhaupt in einem gesellschaftspolitischen und/oder ästhetischen Sinne ,progressiv erinnert‘ werden kann. An dieser Stelle sei auf Jasmin Böschens kritische Gedanken zum Vorbild eva.stories hingewiesen (2020, o.S.):

 

Für eine Geschichtspädagogik stellt sich mir die Frage, ob die leichte Zugänglichkeit wirklich bildend wirken kann. Statt die jüngere Generation immer dort abzuholen, wo sie steht, ohne sie von dort fortbewegen zu wollen und sie manchmal durch Vorurteile einer älteren Generation erst an diesen Ort stellend, sollte die Schulung der Reflexion von Medialität eine wichtigere Rolle spielen: Ein Nachspüren und Spürbarmachen von Medialität durch und in künstlerischen Strategien sollte gefördert und eine Auseinandersetzung darüber in Gang gebracht werden, warum Inhalte in einer bestimmten Weise dargestellt oder gezeigt werden und ob dies sinnvoll ist.

 

(Frauen als) erinnerungskulturelle Idealfiguren

,Erinnert‘ wird sowohl mit bzw. in ichbinsophiescholl, als auch eva.stories, Disappearing Stories oder The Anne Frank Video Diary an Opfer bzw. Überlebende, nicht an Täter:innen, Kollaborateur:innen, Mitläufer:innen oder Mitwisser:innen. So lässt sich eine zentrale inhaltliche Gemeinsamkeit der bisher größeren erinnerungskulturellen Webserien-Produktionen beschreiben, die außerdem allesamt anlässlich eines entsprechend signifikanten Gedenktages bzw. Jubiläums veröffentlicht wurden. Dieses Thematisieren von (tragischen) Heldinnenfiguren steht damit durchaus in einer Tradition des Biopics. Daniela Berghain (2009) identifiziert das Biopic als dominantes Genre im deutschen Geschichtsfilm zu NS und Shoah, das häufig ,vorbildliche‘ Widerstands-Biografien erzählt, etwa in Elser – er hätte die Welt verändert (Oliver Hirschbiegel, DE/IT 2015). Damit einher geht die Tendenz zur narrativen Schließung, welche die „Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart [...] nostalgisch verklebt. Angeblickt wird in der Vergangenheit das Bekannte, und dieses wird auch konstitutiv für die Geschichtsbilder der Gegenwart“, wie Tobias Ebbrecht kritisch an der deutschen Produktion Sophie Scholl – Die Letzten Tage (Marc Rothemund, DE 2005) diskutiert (2011, 75). Viele dieser Biopics thematisieren sehr bürgerliche, teils christlich bewegte Widerstandsfiguren, die keine paramilitärischen Methoden anwandten, keine sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaftsideale verfolgten. In dieser Tradition steht merklich auch ichbinsophiescholl.

Medien- und repräsentationskritische Strategien werden auch von den bisher existierenden pseudo-historischen Webserien dezidiert nicht verfolgt, treten diese doch mit dem Anspruch der empathischen Geschichtsbildung über zu Vorbildern erklärten jungen Protagonistinnen auf. Aus den Produktionen spricht auffällig die Tendenz, Opferschaft und Betroffenheit mit Weiblichkeit zu assoziieren, die in filmischen Bearbeitungen der Shoah und des Krieges wirkmächtig war. In einer umfangreichen Studie macht Ingrid Lewis darauf aufmerksam, dass Frauen, zumindest in europäischen Shoah-Filmen, meist als Zeichen für zivile Opferschaft universalisiert wurden (2018, 183) – Ausnahmen, wie der bereits 1960 erschienene Kapò (Gillo Pontecorvo, IT) bestätigen die Regel. Dass eine (weibliche) Infantilisierung und Idealisierung einer realistischen Perspektive und antifaschistischen Sensibilitäten nicht notwendigerweise dient, kritisierte bereits Joan Ringelheim pointiert: „oppression does not make people better; oppression makes people oppressed“ (1993, 387). Auch macht nicht erst seine übermenschliche Gutheit bzw. ,Unschuld‘ einen Menschen Empathie-würdig und den Mord an ihm beklagenswert. Die Glättung in Hinblick auf eine tragische Heldin, ein „inspirational victim“ (Bernard 2003), ist ein im Kern eigentlich sehr konventioneller Zugriff.

Das Primat der Produktionen bei Instagram liegt auf dem möglichst irritationsfreien Opfer-Gedenken, nicht dem Schuld-Erinnern, und dies entlang klar konturierter Freund-Feind-Konstruktionen. Aus der Dominanz weiblicher Figuren in den erinnerungskulturellen Webserien lassen sich ferner zwei Dimensionen ableiten: erstens eine didaktisch-pädagogische Sensibilität, die sendungsbewusst eine jüngere Zielgruppe auf Instagram adressiert und – mitunter bemüht um feministisch-emanzipatorische Subtexte –  ,inspirierende Rolemodels‘ präsentiert bzw. zu präsentieren versucht. ichbinsophiescholl knüpft vereinzelt sogar deutlich an feministische Internetdiskurse an, wie sie in den vergangenen Jahren vermehrt von Influencerinnen bespielt werden, wenn z.B. der ,Account von Sophie‘ ein Foto von sich und Traute kommentiert: „Traute ist echt toll! Wir haben heute über soo viele Dinge gesprochen. Über unsere erste Periode (ich war damals stolz wie eine Königin)“ (Post vom 12. Mai 2021).



Medienumgebung und Parasozialität

 

Sowie die Serie sich formalästhetisch an die ästhetischen Konventionen Instragrams anpasst, so nutzt sie ebenso die Kommunikationsmöglichkeiten der Plattform als Sozialem Medium. Während eva.stories keine Hashtags genutzt hat, verlinkt das Sophie-Scholl-Projekt unter „#ichbinsophiescholl“ die jeweiligen Wochenzusammenfassungen oder sog. „Highlights“ (z.B. Sophies Einnahme von Metamphetamin in Form der sog. „Panzerschokolade“), um so eine erweiterte Verlinkungsumgebung zu generieren. Als ,Konkurrenzangebot‘ zur Serie finden sich unter „#sophiescholl“ vor allem Bezüge zur historischen Figur. Darüber hinaus lassen sich unter Variationen des Seriennamens „Edits“ finden. Diese von einfachen User:innen erstellten Videos zeigen eigene Montagen der Serienbilder inkl. einer eingebetteten (i.d.R. traurig anmutenden) Musik.

Hervorzuheben ist die intensive Nutzung der Kommentarfunktion als Interaktionsfeld der Figur. Dort tauscht sich das Produktionsteam als vermeintlich ,echte‘ Sophie Scholl mit Follower:innen aus und verbleibt dabei weitgehend oberflächlich. Anlass für den fiktionalisierten Austausch in den Kommentarspalten geben häufig Postings, in denen Sophie ihre Zuschauer:innenschaft über alltägliche emotionale Probleme adressiert oder sie um Rat fragt (z.B.: „Warum ich nicht rauchen darf? Weil es nicht gut für eine Schwangerschaft wäre […]. Was haltet ihr von diesem Verbot?“). Diese Interaktionsmöglichkeit fügt der Serie eine improvisatorische Dimension zu und verstärkt die bereits angesprochenen Synchronisierungsbemühungen in der Darstellung einer historischen Figur 1942/1943 im Verhältnis zu den zeitgenössischen Rezipient:innen 2021/2022. So finden sich in den Kommentaren häufig empathische Solidaritätsbekunden, Handlungs- und Denkanstöße wieder (z.B.: „Das solltest du auf jeden Fall selbst entscheiden dürfen. Und wenn man mit der Logik anfängt – kann rauchen nicht auch impotent machen? Wenn man es Frauen aus dem Grund verbieten will, sollte das für Männer genauso gelten, finde ich“). Diese wiederum werden oft wertschätzend ,von Sophie‘ zurückkommentiert und dankend angenommen. Wenn Kommentare über den jeweiligen Interaktionsrahmen des Posts hinausgehen und z.B. Fragen bzgl. des historischen Kontexts oder Produktionsentscheidungen stellen, antwortet das zuständige Social-Media-Team des Projekts unter Angabe von „#TeamSoffer“ aus einer non-fiktionalen Position.


 

Screenshots aus einem Kommentarbereich von ichbinsophiescholl, Beitrag vom 4. Januar 2022 (verm. 4. Januar 1943).



Die Praxis, in Sozialen Medien ,mit historischen Persönlichkeiten‘ – respektive nach solchen benannten Konzept-Accounts – zu interagieren, ist kein Novum. So etablierte sich z.B. auf YouTube eine Art selbstreflexives Rollenspiel, in dem Accounts mit dem Namen und Profilbild klassischer Komponisten wie Ludwig van Beethoven oder Dmitri Schostakowitsch in den Kommentarspalten klassische Musik ironisch ,kommentieren‘. Es ist anzunehmen, dass sich solche Interaktionen zwischen einfachen User:innen und Accounts fiktionalisierter historischer Personen selbstreflexiv wie eine Art cleveres Rollenspiel vollziehen. Ein solches kann funktionieren, weil die jeweilige historische Person längst zur überhöhten kulturhistorischen Persona avanciert ist, über die gewisse Annahmen und Wissensbestände kursieren, auf die humoristisch referiert werden kann. Selbstironie existiert in den meisten Kommentaren zu ichbinsophiescholl allerdings nicht, obwohl evident ist, dass es sich bei der kommentierenden Sophie Scholl um das Produktionsteam handelt und der Versuchsaufbau des Projekts einen auch spielerischen Charakter hat. 

In Hinblick auf Fragen der Parasozialität ist diese Interaktionsebene innerhalb eines Projekts unter dem Credo ‚Geschichtsunterricht durch Selbstinszenierung‘ bemerkenswert. Parasozialität wird bezogen auf Soziale Medien meist als Marketingstrategie von Influencer:innen zur Bindung von Follower:innen diskutiert. ichbinsophiescholl verfolgt demgegenüber keine Marketingstrategien zur Produktwerbung, ist aber bemüht um eine eben solche parasoziale Kommunikation und Bindung zur fiktiven Sophie Scholl, was hinsichtlich der paradoxen Unmöglichkeit einer direkten Kommunikation mit der historischen Person Sophie Scholl Fragen aufwirft. Durch die Beschränkung der Serie auf 10 Monate war nicht selten schon vorab nach dem 22. Februar 2022 gefragt worden, dem Tag der Hinrichtung, an dem das Projekt mutmaßlich endet und somit gleichzeitig das Interaktionsangebot ,mit Sophie Scholl‘. Hier stellt sich die Frage nach der Legitimität einer emotionalen parasozialen Verbindung von Rezipient:innen zu einer ermordeten Person bzw. der Forcierung einer solchen Beziehung. Schließlich ist anzunehmen, dass sich unter den vielen Follower:innen Personen befinden, die über die gesamte Laufzeit nahezu täglich mit der 21-jährigen Biologiestudentin (auch aktiv-kommentierend) interagierten. Besonders die Interaktion mit der vermeintlich historischen Figur auf dem eigentlich erinnerungs- sowie zeitlosen Portal Instagram wirft schwierige Fragen der kognitiven und emotionalen Rezeption auf.

Zum Abschluss der Serie wurden auf dem Kanal ichbinsophiescholl zwei Livestreams initiiert, die teils an solche anknüpften: zum einen „Sophie Scholl und die Community“, inklusive eines Fans der Serie (Mehmed König), zum anderen ein Gespräch mit der beratenden Historikerin Dr. Maren Gottschalk. In beiden moderierten Videokonferenz-Runden reflektierte das Produktionsteam (vertreten durch Regisseur Tom Lass und Ella Knigge, zuständig für die „Community Management Koordination“ des Projekts) mit der Schauspielerin von Sophie Scholl (Luna Wedler) und den beiden ausgewählten Gästen über die Produktion. Im „Community-Talk“-Livestream wurden anhand der Livenachrichten aus dem Chat vereinzelt die „Lieblingsmomente“ sowie Fragen der Zuschauer:innen behandelt. Die eigene Emotionalität gegenüber der Produktion prägte den Rückblick und war oft Gegenstand jener Fragen, die von der Moderatorin zur Beantwortung ausgewählt wurden. Als Überlebender des Jugoslawien-Krieges (1991–95, 1998/99) eröffnete Mehmed König seine persönliche Verbundenheit zur Inszenierung von Sophie Scholl („von Beitrag zu Beitrag wurde ich immer emotionaler“), Wedler rekurrierte auf ihre persönliche Auseinandersetzung mit Sophie Scholl in ihrer Vorbereitung, um ihre Interpretation zu legitimieren. Der Livestream war letztlich geprägt von einer sehr affirmativen emotionalen Oberflächlichkeit und (womöglich dem Charakter eines „Community-Events“ geschuldet). Vielfach wurde im Chat etwa um eine Reaktion auf die Kritik Jan Böhmermanns (im ZDF Magazin Royale vom 18. Februar 2022) am Projekt gebeten, eine solche wurde in den zweiten Livestream am Folgetag verschoben. Im „Histo-Talk“ mit Dr. Maren Gottschalk (die von Böhmermann explizit und kritisch erwähnt worden war) erklärte diese ihre grundsätzliche produktionstechnische Rolle, die darin bestanden habe, dass sie nicht für den historischen Kontext verantwortlich war, sondern beratend an den Dialogen mitwirkte – „was von meinen Anmerkungen schließlich übernommen wurde, lag in der Verantwortung der Redaktion“. Die von Böhmermann vorgebrachte Kritik, die sich auch auf mangelnde Quellenangaben im Sinne einer ,peinlichen‘ Überanpassung an die antizipierten Bedarfe einer ,jungen Generation‘ bezog, reduzierte sie auf das Moment historische Fakten mit Fiktion zu vermischen und die Frage, ob dies zu einer „unscharfen Darstellung“ führe. Hierzu argumentierte bereits Ulrich Herrmann als Redaktionsleiter des SWR im Rahmen eines Gesprächs der Friedrich-Naumann-Stiftung, dass es „Teil des Spiels“ sei, den historischen Kontext zu erfragen oder selbst innerhalb der „Community“ in Kommentarspalten zu liefern. Kirstin Frieden mahnt im Kontext Sozialer Medien und Geschichtsbildung hingegen vor einem willkürlich-Werden von Zeichen (2015).

 

Produktion 

ichbinsophiescholl wurde vom SWR und BR gemeinsam mit Produktionsstudios Sommerhaus und VICE realisiert. Im ,Community-Stream‘ äußerte Schauspielerin Luna Wedler, dass sie insgesamt (nur) drei Wochen am Stück gedreht hätten, weshalb die Produktion für sie schon relativ lang zurücklag – wohingegen die Fans den Eindruck einer Art kontinuierlichen ,Echtzeit-Produktion gewinnen konnten. Luna Wedler hat dafür unter der Anleitung eines professionellen Kameramannes selbst gedreht, wie der SWR außerdem auf seiner Infowebsite zum Projekt beschreibt, die relativ weitreichend über die Produktionsumgebung und beteiligte Personen informiert (ebd.).

 

 

Abschließende Bemerkungen: Das Primat der Authentifizierung

,Authentizität‘ ist für die konstruktivistische Medien- bzw. Filmwissenschaft ein heikles Konzept, sodass nur kontextsensibel und insbesondere im Sinne von Authentizitätssignalen und etwaigen rezeptionsseitigen Zuschreibungen darauf zurückgegriffen werden kann. In Bezug auf Geschichtsfilme lassen sich z.B. mit Matías Martínez (vgl. 2004, 41ff.) verschiedene Dimensionen diskutieren, darunter eine paradoxe gestalterische Authentizität. Mittels Aufgreifen historischer Film-Ästhetiken können filmische Ereignisse authentisch wirken, wenn ihr Stil eine Nähe zu historischen Aufnahmen aufweist, wie im Falle des Schwarzweißfilms Schindler‘s List (Steven Spielberg, US 1993) oder historische Fotografien nachgestellt werden, z.B. von Wehrmachtssoldaten und Partisan:innen in Idi i smotri (Komm und Sieh; Elem Klimow, UdSSR 1985). ichbinsophiescholl geht durch die Adaption moderner Medien-Ästhetiken einen diametral entgegengesetzten Weg, womit sie keine ,Authentizität‘ im Verständnis des historisierenden Films, sondern einen anderen Authentizitätsbegriff bedient, nämlich jenen Sozialer Medien, der auf interpersonale somatische Nähe zur und Sympathie für die unverstellt wirkende Internet-Persona abzielt. Hier rekurriert die Webserie auf die vermeintliche Unverfälschtheit und Unmittelbarkeit von Onlinevideokulturen, die wissenschaftlich bereits vielfach hinterfragt und relativiert wurden, in der Praxis jedoch nach wie vor hohe Relevanz besitzen. Dass Jan Böhmermann „Sophie Scholl bei Instagram“ lakonisch als „viel authentischer als die echte Sophie Scholl“ bezeichnete, adressiert genau dieses Problem. Authentizität ist auf Instagram notwendigerweise das Ergebnis einer funktionierenden Authentizitätsperformance.


 

Screenshot aus ZDF Magazin Royale (ZDF Mediathek). Böhmermann kochte während der Sendung ein ,von Sophie Scholl‘ im Stil einer ,Food‘-Influencerin demonstriertes Eintopfrezept nach.


Als ,authentisch‘ werden Geschichts-Filme und Serien mit Martínez (2004, 41ff.) potentiell auch insofern bewertet, als sie mehr oder weniger valide historische Fakten repräsentieren, die in ihren mehr oder weniger expliziten paratextuell ausgewiesenen Quellen begründet liegen (beispielsweise in nachgelagerten Texttafeln, wie sie auch ichbinsophiescholl verwendet). Anders als Böhmermann bemängelte, muss aus medienwissenschaftlich sensibilisierter Sicht nicht so sehr die vereinzelt wenig akkurate Faktentreue bemängelt werden – diese ist auch in Biopics immer gegeben gewesen und alles andere als ein Novum in der filmischen Bearbeitung historischer Stoffe. Vielmehr hat die dargestellte Medialität und Medienpraxis einen immensen Einfluss auf die Erzählung, Charakterisierung und Wirkung der Webserie.

So muss bei all der Betonung des „innovativen“ und „experimentellen“ Charakters des Projekts doch festgehalten werden, dass die filmischen Ausdrucksmittel in einer solchen ,pseudo-historischen‘ Herangehensweise eigentlich extrem limitiert sind. Warum – fragt man sich als Zuschauer:in – hat diese Sophie Scholl die Zeit und den Willen, sich so ausgiebig zu präsentierten, zu filmen und mitzuteilen, wenn sie dies doch nicht im Sinne ihres Widerstandsprojekts tut (anders als z.B. in eva.stories ,plausibilisiert‘ wird)? Wenn es in der diegetischen Logik keine potentiell Regime-kritischen Rezipient:innen für dieses Filmen gibt, wirkt es da nicht als seltsam eitler Akt der Selbstbespiegelung? Die Webserie, die auffallend auf einem Ausstellen und Adressieren von emotionalen Affekten beruht, ,krankt‘ daran, dass eben diese Gefühle immer performed werden, zeigt die Hauptfigur diese doch wissentlich und aktiv einer Kamera, was vielmehr das Gefühl eines nie enden wollenden künstlichen „Cheese“-Momentes der fotografischen Pose aufkommen lässt. Dies schränkt das Spektrum der ausgedrückten Situationen, Gefühle etc. zu Gunsten einer Imitation typischen Instagram-,Contents‘ immens ein. 
 
Anders als im Spielfilm kann diese Sophie Scholl keine Momente zeigen, von denen sie nicht gewollt hätte, dass eine Öffentlichkeit sie sieht, keine außermediale Normalität, keinen ,echten Menschen‘ Sophie Scholl, auch, wenn dies paradoxerweise das selbsterklärte Ziel des Projekts ist. Womöglich eignet es sich aber gerade deshalb auch als Anlass für eine kritische Diskussion der personalisierend-,authentischen‘ Konventionen Sozialer Medien.

 

 

Angaben

Staffeln: 1/keine Staffelstruktur

Episoden: 42

Episodenlänge: 3–15 Minuten (durchschnittlich 5)

Erscheinungsrhythmus: täglich

Zuerst gezeigt auf: Instagram

Idee: Susanne Gebhardt (SWR)

Regie: Tom Lass

Produktion: SWR, BR, VICE, Sommerhaus

Jahr: 2021

Genre: Drama, Twenpic, Biopic, Historie

 

Abrufbar unter

https://www.instagram.com/ichbinsophiescholl/channel/

https://www.ardmediathek.de/sendung/ich-bin-sophie-scholl/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9zZGIvc3RJZC8xMzMx

(beide zuletzt aufgerufen am: 3. März 2022).

 

Forschungsliteratur

Berghain, Daniela (2009): Sophie Scholl Biopics. Wandel im öffentlichen Gedächtnis einer weiblichen Ikone des Widerstands. In: Manfred Mittermayer et al. (Hg.) Ikonen, Helden, Aussenseiter. Film und Biographie. Wien. 105–121.

Bernard, Catherine A. (2003): Anne Frank. The Cultivation of the Inspirational Victim. In: Elisabeth Baer/Myrna Goldenberg (Hg.) Experience and Expression. Women, the Nazis, and the Holocaust. Detroit. 201–225.

Böschen, Jasmin (2020): Über die Darstellbarkeit des Undarstellbaren. In: Nach dem Film, Nr. 18 (=Ästhetik und Theorie des digitalen Films), URL: https://www.nachdemfilm.de/issues/text/ueber-die-darstellbarkeit-des-undarstellbaren (Letzter Zugriff: 20. Juli 2021).

Ebbrecht, Tobias (2011): Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust. Bielefeld.

Frieden, Kirstin (2015): Freundschaft mit einem Holocaustopfer – Möglichkeiten und Grenzen der Erinnerungskultur den neusten Medien und am Beispiel Facebook. In: Mediale Kontrolle unter Beobachtung, Jg.4, Nr. 1, 1–11.

Greiner, Rasmus (2018): Auditive Gewalterfahrung. Die argentinische Militärdiktatur im Film. In: Heinz-Peter Preusser (Hg.) Gewalt im Bild. Ein interdisziplinärer Diskurs. Marburg. 379–390.

Institut für Zeitgeschichte: Archivbestand Nachlaß Inge Aicher-Scholl (IfZ-Signatur ED 474).

Martínez, Matías (2004): Authentizität als Künstlichkeit in Steven Spielbergs Film Schindler's List. In: Augen-Blick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft, Nr. 36 (=Zur neuen Kinematographie des Holocaust). 39–60.

Ringelheim, Joan (1993): Women and the Holocaust. A Reconsideration of Research. In: Carol Rittner/John K. Roth (Hg.) Different Voices. Women and the Holocaust. New York. 373–418.


Sonstige Quellen

Hespers, Nora: Nach zehn Monaten“ Sophie Scholl“ auf Insta: Lernen, wie man es nicht machen sollte, Über Medien (26.02.2022) URL: https://uebermedien.de/68879/nach-zehn-monaten-sophie-scholl-auf-insta-lernen-wie-man-es-nicht-machen-sollte/ (Zugriff: 28.02.2022).
 
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit [off. YouTube-Kanal]: „DE @ichbinsophiescholl - Die Widerstandskämpferin in der Gegenwart“. URL: https://www.youtube.com/watch?v=SRHKaDsm3xE (Zugriff: 02.03.2022).

 

 

 

Anmerkung

 

Teile des Textes basieren auf  

 

Körber, Martha-Lotta (2021): Instant Memories. Eine Analyse fiktionaler und faktualer Webserien zu Shoah und Zweitem Weltkrieg auf Instagram (=unveröffentlichte Masterthesis).

 

 

 

(Martha-Lotta Körber/Martin Platte, 03.03.2022).